Wir verweilen immer noch in Swanns Welt und erinnern uns, wie Swanns Liebe zu Odette durch den Vergleich mit Botticellis „Sephora“ entfacht wurde. Doch zunächst ging es um den Maler, der durch diesen Vergleich an Rang gewann, weniger um seine später so heiß geliebte Odette, die ihm zunächst noch als Medium diente, um die Kunstfertigkeit Botticellis zu preisen.
Was für eine merkwürdige Konstellation, dieses Changieren zwischen Kunstgenuss und dank dieser intensiven Bildbetrachtung Nahrung erhält. Das Alltägliche gewinnt erst durch einen Vergleich mit dem Kunstwerk an Transparenz. Verwundert verfolgt der Erzähler, mit welcher Kennerschaft Swann Gestalten der Bildenden Kunst auf bekannte Personen überträgt, um damit deren Eigenschaften zu charakterisieren.
Im Folgenden geht es um die allegorischen Gestalten, die Tugenden und Laster von Giotto, die in der Arenakapelle in Padua zu sehen sind. Deren bauschige Übergewänder, wie beispielsweise die der „Caritas“, erinnerte Swann an die schwangere Haushaltsgehilfe Françoise.
„Und wenn er nach dem Ergehen des Küchenmädchens fragte, sagte er jedesmal: ‚Was macht die Caritas von Giotto?‘“
Der Junge, begeistert von diesem Vergleich und im Besitz von einer Fotografie der Caritas, beginnt Interpretationsfäden zu spinnen: Die Tugend, die ihr Herz hinauf zu Gottvater reicht, vollzieht dieses Opfer demütig und gelassen - so, wie Françoise das „beschwerende Lasten“ ihrer Schwangerschaft erduldet.
Nun zu einem ganz anderen Thema: Ob Marcel Proust Kenntnis hatte von der barocken Gemälpoesie oder der viel diskutierten Theorie der Ekphrasis? Beide Begriffe beschreiben eine literarische oder genauer rhetorische Form, die anschaulich und fast schon bildlich einen Sachverhalt schildert. Ich bin mir sicher, dass der französische Schriftsteller über ein breites Spektrum literaturtheoretisch reflektierter Ausdrucksformen verfügte. Dafür ein Beispiel. Der alte Legrandin, dessen Snobismus die Eltern des jungen Erzählers während eines Kirchgangs in Combray empörte, da er sie nicht grüßte, sondern gerade noch ein flüchtiges Blinzeln seiner Augen erkennen ließ, lud den Jungen Wochen später an einem sommerlichen Abend zum Dinner ein. Sie speisten auf der Terrasse. Es war Mondschein. Lange sprachen sie kein Wort, bis Legrandin es ergriff:
„Und siehst du, mein Kind, es kommt im Leben eine Stunde, von der du noch sehr weit entfernt bist, wo die müden Augen nur noch das Licht vertragen, das eine schöne Nacht wie diese hier ausgießt und durch das Dunkel filtriert, in dem das Ohr keine Musik mehr erkennt als die, die das Mondlicht auf der Flöte des Schweigens spielt.“
Was für ein wunderschönes Bild, das als Gemälde nicht vorstellbar ist - nicht einmal als Musikstück, sondern nur als Sprache. Die beiden kamen sich näher, und der Erzähler musste feststellen, dass Menschen in unterschiedlichen Situationen ihr Verhalten grundlegend ändern können. Damals beim Kirchgang hat sich Legrandin snobistisch verhalten, in dieser Stunde aber als einfühlsamer und weiser Mann, der seinem Gas fast zärtlich eine Lebensweisheit vermittelt.
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