Montag, 13. Februar 2017

P3 Kunstpfade


Alessandro Mendini, Poltrona di Proust, 1978.
Foto Kluckert. Mit freundlicher Genehmigung der Firma Vitra/Weil am Rhein

Die „Proust-Poltrona“ lädt auch dazu ein, Pfade aufzusuchen, die den Dichter zur Bildenden Kunst geführt haben. Das waren zunächst konkrete Pfade, also Kirchenbesuche, bei denen der Erzähler beispielsweise sein Augenmerk auf das Interieur und die Architektur gerichtet hat.
In „Swanns Welt“ beschreibt Proust den Gang des Jungen (des Erzählers) mit den Eltern zum sonntäglichen Gottesdienst. Dabei fallen ihm Dinge auf, die erstaunlich sind: Ein „pockennarbiges Portal“ erregt seine Aufmerksamkeit und vor allem das Weihwasserbecken von Saint-Hilaire in Combray. Der Stein vom Portal und Becken sind abgewetzt. Das fasziniert ihn, und er fragt sich, wie es dazu gekommen sein konnte. Was aber, so fragen wir uns, hat dieses Interesse mit der Kulturgeschichte zu tun? Kein Wort über Ornamente oder mögliche Bildprogramme. Doch das Historische wird reflektiert, wenn auch von unerwarteter Seite. In den „Wetz-Spuren“, so der Erzähler, offenbaren sich die Jahrhunderte des Gebäudes: 

„Das leichte Tücherstreifen der Bäuerinnen beim Eintreten und die Berührung ihrer scheuen Finger, wenn sie Weihwasser entnahmen, haben in ihrer Wiederholung durch die Jahrhunderte hindurch eine zerstörerische Kraft bekommen und die Steine (…) mit Furchen versehen.“ 

Das ist kaum nachzuvollziehen. Oder doch? Handelt es sich um ein kindliches Phantasiestück? Zu welchem Schluss man auch kommen mag, auf jeden Fall hat der Junge einen Weg gefunden, sich dem Geschichtlichen zu nähern. Möglicherweise war der Dichter selbst auf der Suche nach einem Bild, das ihm seine Kindheit plastisch vor Augen führt. Mit der Vorstellung eines solchen Ereignisses hat er einen Abschnitt der verlorenen Zeit wiedergefunden - einen winzigen Ausschnitt seiner frühen Jahre, in dem sich erstmals die historische Dimension aufgetan hat. 

Das Ästhetische blieb zunächst noch außen vor, da die Distanz fehlte, die nötig war, um das Künstlerische zu entdecken und zu beurteilen. Der Junge läßt seine Augen durch das Kirchenschiff streifen. Beim Betrachten der Fenster im Obergaden fällt ihm auf, dass deren einzigartige Farbenpracht erst im Halbschatten entfaltet wird. Besonders angetan ist er von einem Fenster, das 

„in seiner ganzen Größe von einer einzigen Person ausgefüllt war, die wie ein Kartenkönig aussah“.

Übrigens hat Proust in einem Brief von 1908 über seine verschiedenen Projekte geschrieben, die, fast alle modifiziert und der Handlung entsprechend angepasst, in seinem Romanwerk auftauchen. Er schrieb, dass er unter anderem auch an einer Studie über Kirchenglasfenster arbeite. (Vergl. Karlheinrich Biermann, Marcel Proust, Reinbek bei Hamburg 2005, S.78)

Die Entfernung zwischen dem Betrachter und dem historischen Objekt vergrößert sich. Der Erzähler steht nun außerhalb der Kirche und betrachtet deren Apsis, die ihm plump erscheint: „Es fehlt ihr sowohl an künstlerischer Schönheit wie an religiöser Inbrunst.“ Dagegen ist er vom Glockenturm von Saint-Hilaire begeistert, der schon von weither sichtbar ist „und sein unvergessliches Bild bereits in den Horizont zeichnet, bevor noch Combray den Blicken erschien.“


Wenn man diese Betrachtungen zusammennimmt, dann können sie als Gleichnis verstanden werden, wie ein junger Mensch beginnt, seine Welt in geschichtlicher und künstlerischer Weise kennenzulernen, nämlich von Details des Weihwasserbeckens zum fernen von Landschaft und Himmel gerahmten Kirchturm - von der Miniatur zum Panorama. Dabei geht es nicht um Interpretationen oder Erkenntnisse von Bedeutungen sondern um die reine Anschauung, aus der ausschließlich emotionale Urteile resultieren.

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