Montag, 26. Dezember 2016

P2: Verlieben, lieben, verlieren


Alessandro Mendini, Poltrona di Proust, 1978.
Foto Kluckert. Mit freundlicher Genehmigung der Firma Vitra/Weil am Rhein


Lassen wir uns also wieder in der "Poltrona di Proust" nieder. Die Punkte umfangen uns und entfalten erneut ihre Erzählstruktur. Wir erinnern uns an den kleinen Jungen (Post 1), der am späten Abend im Bett bebenden Herzens auf den Gutenachtkuss der Mutter wartet. Die Ängste schweben einher - frei und unbestimmt in der kindlichen Seele. Einen Ankerpunkt finden sie erst Jahre später. Das ist meistens der Fall, wenn man eine Frau liebt. 
Proust erinnert sich an Swanns Liebe zu Odette und berichtet ausführlich vom Kennenlernen, vom gemeinsamen Glück, von Eifersucht und Misstrauen, sowie schließlich vom bitteren Scheitern und Erlöschen der Liebe. Diese Phasen werden mikroskopisch untersucht und fügen sich zu einem fein gesponnenen Netz zusammen, so dass sich der Begriff Liebe in einer facettenreichen Dimension entfaltet.

Swann, ein älterer Herr, lernt die junge Odette auf einer Abendgesellschaft kennen. Er verliebt sich - allerdings nicht in die hübsche Frau - sondern in die Melodie einer Klaviersonate, die ein junger Pianist vorträgt. Odette entzückt ihn lediglich durch ihre Einfalt und Schlichtheit. Später studiert er eine Reproduktion von einem Porträt der Sephora, der Tochter Jethros, in Sandro Botticellis Moses-Fresko in der Sixtinischen Kapelle. Er erkennt die Gesichtszüge von Odette wieder. Der Wert des Gemäldes nimmt durch die Bekanntschaft mit Odette einen immer höheren Rang ein. Sie selbst ist nur ein Medium, das ihm die Kunstfertigkeit des italienischen Malers vor Augen führt. Die erwähnte Reproduktion der Sephora ersetzt schließlich ein Foto Odettes. Hier hatte er „seinen“ Botticelli, und so reihte er Odette ein in sein imaginäres Kunstkabinett.

Wann begann Swann zu lieben? Der Weg zur Liebe führt über Umwege, zuweilen auch durch Labyrinthe. Häufig weicht man dem aufkeimenden, süßen Gefühl aus durch mutwilliges Zuspätkommen zu einer Verabredung oder durch gleichgültiges Verhalten, wenn es um eine gemeinsame Unternehmung geht. 

Eines Abends traf er betont weltmännisch zu später Stunde im Salon der Abendgesellschaft ein, und musste erschrocken feststellen, dass Odette bereits gegangen war. Eilig rief er seinen Diener herbei und ließ sich durch Paris kutschieren, um in den Restaurants Odette zu suchen. Er fand sie,  atmete auf und … Wochen zärtlichen und glückseligen Zusammenseins folgten. 

Seine Zuneigung steigerte sich, nachdem er bemerkt hatte, dass vielen Männer, denen sie begegneten, Odette als eine „entzückende und begehrenswerte Frau“ erschien. Gleichzeitig aber nistete sich ein erster Schatten von Eifersucht in seiner Seele ein. Der Verdacht von Untreue stieg in ihm auf, er spürte ihr nach und versuchte herauszubekommen, ob sie sich mit Liebhabern vergnügte. Das belastete ihn, und um sich der Last zu entledigen, versuchte er die Liebe zu Odette aus seinem Inneren zu vertreiben. Es gelang ihm nicht, obwohl er dem Alter geschuldete Veränderungen an ihrem Äußeren beobachtete und feststellte, dass der einstige Zauber, der sie umgeben hatte, längst verflogen war. Jedoch sie blieb sie selbst, und um so mehr liebte er sie.

Seine von Eifersucht genährten Ahnungen wurden zur Gewissheit. Ein Geliebter war aufgetaucht, mit dem sie eine Reise nach Ägypten zu den Pyramiden plante. Sie wollten Swann eine Ansichtskarte zusenden, versprach sie und bat ihn um einen beträchtlichen Geldbetrag, um die Reise antreten zu können. Swann war entsetzt, und malte sich aus, mit welchen scharfen Worten er gedachte, sie zurückzuweisen. Doch dann lenkte er ein, da er ihr den Kummer ersparen wollte, den sie erleiden würde durch seine Zurückweisung in dieser Sache. Zusätzlich fühlte er sich selbst schuldig, da es die Eifersucht war, die ihn zu dieser schroffen Abweisung ihres „an sich so begreiflichen Wunsches“ getrieben hatte.

Bald fühlte Swann, dass er sie verlassen musste. Das riet ihm sein Verstand, doch seine Liebe zu Odette obsiegte. Schließlich stellte er fest, dass aus ihm ein unglücklicher Mensch geworden ist. Es gab nur einen Weg. Er war bereit, die Liebe zu Odette zu vertreiben. Er beschloss, sich zu entlieben, gewissermaßen die Liebe zu Odette aus sich heraus zu wringen. Ihm wurde ein anonymer Brief zugespielt, der Odette als Geliebte zahlreicher Männer und auch Frauen entlarvte. Und so stellte er sie auf die Probe und fragte nach Personen, zu denen sie früher und möglicherweise auch jetzt noch eine Beziehung pflegte. Odette war entsetzt und wich den Fragen aus. Sie beschuldigte ihn mit bösen Worten, ihr Leid und Kummer zuzuführen. Obwohl er noch zärtliche Gefühle für Odette verspürte, trennte er sich endgültig von ihr. Das war das Ende seiner Liebe zu Odette - dachte er, hoffte er, doch ein Rest Sehnsucht nach ihr ist geblieben.

„Die Zählebigkeit von Swanns Liebe, die Beständigkeit seiner Eifersucht waren aus unendlich vielen Wünschen und unendlich vielen Zweifeln gemacht, die alle abgelebt und treulos von ihm gewichen waren. Alle aber hatten Odette zum Gegenstand gehabt.“

In der Poltrona hüpfen die bunten Punkte umher. Man kann sie sich aussuchen, welche die Wünsche und welche die Zweifel bezeichnen. Sie bilden ein Netzwerk. Von Punkt zu Punkt offenbaren sich die einzelnen Phasen von Swanns Liebe zu Odette - Gefühlsfacetten zwischen Euphorie und Verzweiflung.


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