Montag, 7. März 2016

Magie eines Gemäldes



Mit dem "Diestelfink" von Donna Tartt - 2013 im Goldmann-Verlag erschienen - hält man ein Schwergewicht in den Händen: 1022 Seiten! Das soll nicht abschreckend sein, denn wenn man in die Geschichte eingetaucht ist, möchte man sie nicht mehr verlassen. Aber Achtung! Eine Warnung vorweg: Lesen Sie auf gar keinen Fall den Klappentext! Er nimmt ein entscheidend wichtiges Ereignis vorweg, mehr noch, er entblößt die Gelenkstelle des Romans, so dass Sie anfangs unwillkürlich und begierig auf das angekündigte Geschehen hin lesen und den filigranen Spannungsfaden, der sublim gesponnen wird, nicht nachvollziehen können. Denn das ist die große Kunst der amerikanischen Autorin, Spannung aus dem Verhalten der Personen zueinander zu beziehen und zwar aus der Perspektive der Hauptperson Theo, eines Dreizehnjährigen, der hingebungsvoll an seiner über alles geliebten Mutter hängt.

Die Leser verfolgen den über viele schroffe Klippen führenden Lebensweg Theos und fragen sich sehr bald, wo sich der junge Mann am Ende des Romans befinden wird. Er ist es ja, der uns seine Geschichte erzählt. Ganz selten nur wird die Erzählperspektive unterbrochen, etwa, wenn Theo sich von einem Freund verabschiedet, in der Meinung, ihn niemals wiederzusehen, und die allwissende Autorin anmerkt, dass Theo sehr wohl sein Freund zu einem späteren Zeitpunkt treffen wird. Diese Brüche in der Erzählhaltung sind bewusst und gezielt eingesetzt, um Erwartungen zu schüren und das Spannungspotential zu erhöhen. 
 
Theos Gegenpol ist sein Freund Boris, ein leidenschaftlicher Draufgänger, der ihn in neue und zweifelhafte Welten zieht. Theos große Liebe nennt sich Pippa, ein anfängliches Traumgespinst, das allmählich an Kontur gewinnt und sein treuer väterlicher Freund Hobie, ein Meister im Restaurieren alter Möbel. Im Kreis dieser so unterschiedlichen Charaktere entwickelt sich die Handlung, beginnt zu kochen und zu brodeln, so dass man das Buch erschrocken kurz beiseite legt, da man sich vor der Fortsetzung des Geschehens fast fürchten muss.
 
Welche Rolle aber spielt der Diestelfink, dieses zarte und hübsch gefiederte Vogelgeschöpf? Es handelt sich hier um ein Gemälde von Carel Fabritius aus dem Jahre 1654, das in den Besitz von Theo gerät. Das Gemälde taucht konkret nur selten im Handlungsgefüge auf, doch ist es allgegenwärtig. Der "Diestelfink" gibt die Wege vor, auf denen die Personen wandeln, manchmal gemeinsam, manchmal getrennt. Das Gemälde scheint über eine magische Kraft zu verfügen, die unsere Helden in das bereits vorgezeichnete Schicksal leiten. Nur einmal präsentiert es sich, um eine Ahnung von seiner Magie zu vermitteln. Diese wenigen Zeilen zählen zu den Kabinettstückchen des Romans:
 
"Ich wurde sofort von seinem Glanz umhüllt, etwas beinahe Musikalischem, einer innewohnenden Süße, die jenseits einer tiefen, bis in Blut gehenden Harmonie der Stimmigkeit nicht zu erklären war, so wie das Herz langsam und sicher schlug, wenn man mit einem Menschen zusammen war, bei dem man sich geborgen und geliebt fühlte. Das Bild strahlte eine Kraft aus, ein Leuchten, eine Frische wie das Morgenlicht in meinem alten Zimmer in New York, das erhaben und doch erheiternd war, ein Licht, das allem klare Konturen gab und es doch feiner und lieblicher erscheinen ließ, als es in Wirklichkeit war, und umso lieblicher, da es ein Teil der Vergangenheit und unwiederbringlich war."

Von der ersten Seite an, sollte man den Text genau verfolgen, da Befürchtungen oder Äußerungen Theos, die man schmunzelnd als kindliche Phantasien entlarvt zu haben glaubt, sich in dem einen oder anderen Fall als künftiges Schreckenszenarium erweisen können. Die Autorin führt ihre Geschichte nach dem Motto "Jede Handlung zieht Konsequenzen nach sich, wie auch immer ich mich entscheide" von einer Etappe zur anderen. Theos Freund Boris hat es gegen Ende des Romans auf den Punkt gebracht: "Selbst, wenn du jemanden helfen willst, weil du ihn liebst, kannst du großes Unheil anrichten." Aber schon lange vorher hat der Roman eine Sogwirkung entfaltet, der man sich nicht mehr entziehen kann. Man glaubt, mit Theo und Boris unterwegs zu sein. In was für eine Sache wird man hineingezogen? Kann das gut gehen, oder endet der Weg in der Katastrophe?
 

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