Samstag, 20. Februar 2016

Kelten, Belchisten und der markgräfler Belchen



Die Kelten waren wohl die ersten, die das Dreiländereck, das heute um Basel, Lörrach oder Mulhouse kreist, als homogene und eng zusammengehörige Region entdeckt haben. Ihre Gründe waren astronomischer Natur - so zumindest wird behauptet. Sie wählten verschiedene Bergkuppen aus, die sie auf den Namen „Belchen“ tauften, einen Jura-Berg im Süden, einen Schwarzwald-Berg im Norden und einen Vogesen-Berg im Westen, also den deutschen Belchen oberhalb Schönaus im Südschwarzwald, den Schweizer Bölchen, Belchenflue oder Belchen nördlich von Olten und den französischen Ballon d'Alsace oberhalb des nördlich von Belfort gelegenen Giromagny.


Spätsommer-Mond über dem markgräfler Belchen

Wenn wir die drei Gipfel miteinander verbinden, erhalten wir ein rechtwinkliges Dreieck. Die Hypothenuse, also die längste Strecke, verläuft vom Schweizer Belchen hinüber zum Ballon d'Alsace. Von dort geht es in einer West-Ost-Direttissima zum Markgräfler Belchen, wo die Linie in einem 45-Grad-Knick südwärts zum Jura-Belchen abzweigt. Ist das Zufall, oder walten hier mythische Kräfte? Auf jeden Fall muss für diese gebirgshafte Dreiecksgeschichte eine Erklärung gefunden werden.
Berggipfel sind den Sternen am nächsten. Also müssen diese eine Rolle gespielt haben. Der Name „Belchen“ fügt sich fugenlos in dieses Muster: In "Belchen" sollen drei keltische Begriffe enthalten sein: "bel - Sonne", che - "großer Stein" und "ne - Himmel". Dass überdies mit "Belchen" der keltische Sonnengott Belenus oder Belakus gemeint ist, beziehungsweise diese Gipfel nach ihm benannt worden sind, dürfte dann natürlich einleuchten, oder?

Wir befinden uns im Herzen des Belchensystems oder anders gesagt, in der Seele der Belchismus-Theorie. Die Belchisten sind davon überzeugt, dass die Kelten die Belchenberge als Jahreskalender genutzt haben. Walter Eichin aus Lörrach und Andreas Bohnert aus Karlsruhe haben herausgefunden, dass man auf dem Gipfel des Ballon d'Alsace am 21. März und am 23. September die Sonne genau über der 73 Kilometer entfernten Kuppe des Schwarzwald-Belchens aufgehen sieht. Diese beiden Daten bezeichnen die Frühlings- und Herbst-Äquinoktien, die Tag- und Nachtgleiche also. 
Wenn man sich am frühen Morgen eines 22. Dezembers die Mühe macht, den Elsass-Belchen zu besteigen und überdies mit einer klaren Sicht belohnt wird, dann blinzelt man in die aufgehende Sonne, die den Jura-Belchen aufblitzen lässt. An diesem Tag hat die Sonne ihren tiefsten Stand des Jahres erreicht.


Ms = Mittsommer, Mw = Mittwinter
1 Belchen, 2 Ballon d’Alsace, 3 Grand Ballon, 4 Petit Ballon, 5 Bölchen/Belchenflue

Zum Solstitium, der Sonnenwende, gehört auch der höchste Sonnenstand. Diesen können wir vom Ballon d'Alsace beobachten, und zwar am 21. Juni mit Blickrichtung nach Nordost, über die Kuppe des Petit Ballon, des Kleinen Belchen, der sich in den Vogesen in 27 Kilometer Luftlinie erhebt. 
Wir haben einen weiteren Belchen hinzugewonnen, den Kleinen Belchen, der das System von Äquinoktium und Solstitium komplettiert. Fragt sich allerdings, inwiefern diese Einsichten dem praktischen Alltagsleben der Kelten nutzbar gemacht worden sind. Wie oft mussten die Berge bestiegen werden, - und das bei gutem Wetter - um die entsprechenden Tage sonnenmäßig zu fixieren? Und wofür das Ganze?

Doch erörtern wir zunächst den Begriff „Belchismus“, der übrigens nicht von Eichin und Bohnert stammt. Ganz im Gegenteil. Die beiden alemannischen Heimatforscher dürften wohl zu (wenn auch verspäteten) Jüngern von Johann Peter Hebel gezählt werden. Hebel glaubte im markgräfler Belchen ebenfalls ein mythischer Berg entdeckt zu haben. Im Kreis seiner Freunde gründete er so etwas wie einen Privatmythos, den Belchismus. Der griechische Meeresgott Proteus, der die Robben des Poseidon hütete, unter den Meeresvölkern nach dem Rechten sah und auch als Schutzgott alter Männer auftrat, wurde zum Hauptgott erhoben, der stolz von seinem Belchenthron sein Reich regierte. Hebel und die Seinigen formulierten eine Geheimsprache und veralberten die kleinlichen Theologen. Ein Bund wurde gegründet. Das Aufnahmeritual beschreibt Hebel in einem Brief von 1804 an seinen Freund, den Röttelner Pfarrvikar Friedrich Wilhelm Hitzig:
„ Im heiligen Namen des Proteus, dass ich dem hohen, belchischen Zauber weihen möge. Salbe dich jetzt mit Tinten und pudre die Locken mit Streusand, stell dich hinaus in die Nacht, den Blick zum Belchen gewendet.“

Nun, das war Spaß und sicherlich auch dem Heimweh nach seiner markgräfler Heimat geschuldet, unter dem Hebel während seiner Karlsruher Zeit als Subdiakon gelitten hatte. Erstaunlich, dass der Hebelsche Belchismus heute wieder aufgegriffen wird, wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Eines jedoch bleibt. Den Belchen umhüllen nicht nur metereologisch voraussagbare Wolken, sondern auch raunendes Druidentreiben. 

Zunächst muss man feststellen, dass ein Belchen im Konzert der Belchen-Astronomie fehlt, der Grand Ballon,  der größte der Vogesen und das Gegenstück zu unserem Belchen. Für diesen Belchen, wenn auch außerhalb des Dreiecks, haben die modernen Belchisten ebenfalls eine Himmelsaufgabe gefunden. Am Tag der Arbeit, dem 1. Mai, könnte man beispielsweise (selbstverständlich ist Wolkenfreiheit angesagt) in feuchter Frühe auf den Ballon d’Alsace steigen, um rechtzeitig zum Sonnenaufgang über dem Grand Ballon den Gipfel erreicht zu haben. So wird behauptet, dass die Kelten den 1. Mai ebenfalls feierten, freilich nicht als  den Tag der Arbeit, sondern wohl eher als Frühlings- oder Sonnentag. Hier brachten die Druiden den keltischen Sonnengott Belenus ins Spiel. Aber so genau weiß man das nicht. Das Wissen über den Brauchtum und die Religion der Kelten ist ohnehin sehr mager, eigentlich aus erster Quelle gar nicht vorhanden, da bislang keine unmittelbaren schriftlichen Dokumente gefunden wurden. Auch die vielen künstlerisch gearbeiteten Gebrauchs- und Sakralgegenstände geben keine Auskunft über die religiösen Anschauungen dieses Volkes. Und dass Belenus in unserem Dreieckland verehrt wurde, ist nicht nachgewiesen. Es darf sogar angezweifelt werden, dass die Druiden Belenus als Sonnengott verehrten. Römischen Quellen zufolge tauchte er als Provinzgott in Noricum auf, einer Region in den Ostalpen. Seine Verehrung breitete sich in der Spätantike bis an die Adria aus. In anderen Schriftquellen wird Belenus wegen seiner Heilkraft mit Apollon in Zusammenhang gebracht. Ein weiteres Zeugnis seiner Verehrung ist für das südliche Gallien, das heutige Aquitanien überliefert. Bordeaux, das römische Burdigala, soll nach ihm benannt worden sein. Das wäre das nachweisbar nördlichste Betätigungsfeld des Provinzgottes.

Zweifellos ist das Belchensystem beeindruckend. Nun kann jedoch das Verbinden von Bergkuppen, das Konstruieren von Dreiecken oder das Schlagen von Kreisen um Mittelpunkte eine Eigendynamik gewinnen, die sich im raschen Tempo von einem historisch halbwegs gesicherten Terrain entfernt. Und so steuert der Belchismus ins Rätselhafte und Irrationale mit der Folge abenteuerlicher Konstruktionen: Der Ballon d'Alsace, zum "Blauen" im Elsass mutiert, wird in eine Verbindung mit dem Markgräfler Blauen gebracht, um die Orte Thann und Ottmarsheim, die auf dieser Linie liegen, als Orte außergewöhnlicher Kunstdenkmäler hervorzuheben. Besteht ein kulturelles Energiefeld zwischen den beiden Blauen? Jean Paul Dillenseger, ein Belchist, wenn man ihn denn so nennen darf, verfolgte die Linie vom Basel-Blauen zum Markgräfler Blauen und die vom Jura-Belchen zum Schwarzwald-Belchen und gelangte zu einer überraschenden Feststellung: Beide Linien kreuzen sich weiter nördlich über dem Freiburger Münster. Sollte Konrad von Zähringen bei der Gründung Freiburgs im Jahre 1120 diesen "Blauen-Belchen-Schnittpunkt" berücksichtigt haben, als er das Städteraster festlegte und die daraus resultierende Platzierung des Münsterplatzes fixierte? Das ist schwer vorstellbar, da Dokumente zur Gründungsgeschichte Freiburgs vorliegen, die auch ohne Belchismus-Magie bestand haben. Mit derartigen belchistischen Theorien nähert man sich dem alemannischen Dichter Hebel an. Doch für ihn war der Belchenkult Spaß.

Nüchtern betrachtet, könnte man in jeder beliebigen Mittelgebirgsregion (beispielsweise in Wales oder Schweden) immer drei oder vier Berge finden, über deren unbewaldeten Gipfelen sich ein Linien- und Dreieckssystem konstruieren lässt, das die Tag- und Nachtgleiche sowie die Sonnenwende fixiert. Ferner kann man annehmen, dass diese Berge in Kuppen oberhalb von 1200 Metern, also jenseits der Baumgrenze, gipfeln. Bleibt noch eine entscheidende Frage: Hätte man die Berge auch "Belchen" getauft, wenn ihre Kuppen bewaldet gewesen wären? Sicherlich nicht, denn für die Druiden wäre eine bewaldete Bergkuppe uninteressant. Beobachtungen hätte nicht stattfinden können. Und in der Tat war die markgräfler Belchenkuppe  etwa bis ins 11. Jahrhundert bewaldet. Das ist einwandfrei nachgewiesen, was unter anderem ein aufschlussreicher Gipfel-Lehrpfad dokumentiert. Der dorische Gott Belenus kann demnach nicht als  Namensgeber für den Belchen gelten. 

Da das alemannische  Wort „Belchen“ mit dem romanisierten keltischen „Belenus“ sprachgeschichtlich keine Berührungspunkte aufweist und daher weder sinnverwandt und mythisch kompatibel sein können, sollte man das etymologische Umfeld von "Belchen" untersuchen. Mit dem althochdeutschen Wort "belche" ist das Blesshuhn gemeint. Zugrunde liegt das germanische "bhel", das mit "glänzend" zu übersetzen ist. Dafür war das germanische "bala" ausschlaggebend, das "glänzend weiß" bedeutet. Daraus leitet sich übrigens auch das Wort „Blesse“ ab. Mit dem Blesshuhn ist also ein Federtier mit einem weißen Fleck auf dem Köpfchen gemeint. 
Sprachgeschichtlich sind die althochdeutschen Worte "blaan" und "bolle" mit "belchen" eng verwandt. "blaan" ist mit "blähen" oder "aufblähen" und "bolle" mit der "rundlich erhöhten Form" zu übersetzen. Diese Miniatur-Wortfamilie trug schließlich bereits in althochdeutscher Zeit dazu 


Der markgräfler Belchen im Winter

bei, "belchen" als Namen für einen Berg zu verwenden, dessen unbewaldete Kuppe mit einem Schneefleck versehen ist. Übrigens ist von "blaan" und "bolle" der Bogen zum französischen "Ballon" zu schlagen. Die Übersetzung ist einfach und wird mit Ball, Ballon und Bergkuppe angegeben. Im Larousse ist übrigens nachzulesen, dass „ballon“ im alemannischen „Belchen“ heißt.

Um beim markgräfler Belchen zu bleiben: Zu Beginn des 11. Jahrhunderts begann eine Besiedlungswelle im Münster- und Wiesental. Der Bedarf an Bau- und Brennholz stieg rasch an. Dann mussten Waldflächen gerodet werden, um für das Vieh Weideflächen zu gewinnen. Auch Höhenrücken und Bergkuppen verloren ihre Bäume. In dieser Zeit erhielt der Belchen im Winter seine "Blesse" und damit seinen heutigen Namen. Nebenbei bemerkt wissen wir nun auch, warum der Blauen nicht Belchen heisst.

Fotos und Grafik Kluckert





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