Dienstag, 19. Januar 2016

Teufelstanz am Abgrund




Fensterspiele

Ich schaue aus dem Fenster und beobachte die winzigen Fahrzeuge tief unter mir. Wie kleine weiße und in die Länge gezogene Luftballons kleben die Lichtkegel an den Stoßstangen. Lautlos gleiten die Mini-Pkws über den Asphalt. Verhalten, und wie durch einen Geräuschfilter absorbiert, dringen die Großstadtgeräusche zu mir hinauf. Menschen sind kaum auszumachen. Winzig klein schieben sich dunkle Punkte, mal in Gruppen, mal vereinzelt und ruckelnd in verschiedene Richtungen. Hin und wieder das durchdringende Hupen und quietschende Reifen. Plötzliche Stille. Nur die verwegenen Klänge Iwans dringen zu mir vor.
Plötzlich bemerke ich, dass ich eigentlich gar nicht aus dem Fenster schaue, sondern mit geneigtem Kopf durch meine Arme in die Tiefe blicke. Erschrocken reiße ich meinen Kopf in die Höhe und gewahre das grinsende Gesicht von Iwan, der im Zimmer steht und, nachdem er den Blickkontakt mit mir bemerkt hat, laut "Bravo, Bravissmo, Meister!" ausruft. Sofort eilen die Freunde herbei. Sergej, der Rotschopf  hat sich eingefunden, auch Tatjana, die leidenschaftliche Tatjana mit den unergründlich dunklen Augen und dem stets melancholischen Blick. 
"Da steht er ja, unser Freund! Ach, der Arme, er weiß gar nicht ...!" 
"Nein, natürlich weiß er nicht", wird sie von Iwan unterbrochen. 
"Er träumt. Der Gute, er träumt!"
Ach Tatjana, denke ich. Ach Tatjana! Rette mich. Reiche mir die Hand. Oder soll ich springen?
"Springe, mein Lieber!" Lispelt mir Tatjana zu. "Springe und genieße den Flug, den letzten Flug!" Sie schürzt ihre Lippen und wendet sich kokett halb ab, um mir aus den Augenwinkeln ein letztes Blitzen zu schenken, bevor sie in der Tiefe des mit Heiterkeit und flackerndem Kerzenlicht erfüllten Raums entschwindet.
Da ist Iwan herbei und packt meine Armgelenke mit kräftigen Händen. Verzweifelt will ich mich am Gesims festhalten, denn meine Füße, die nur unkontrollierten Halt auf einem schmalen, viel zu schmalen Absatz an der Fassade unterhalb des Fensters gefunden haben, beginnen zu ermüden und drohen bereits nach unten abzuknicken. Ich protestiere mit wilden Blicken - so glaube ich zumindest -  bringe aber kein Wort heraus, da mich die Panik gepackt hat. Iwan löst nun, unter dem beifälligen Nicken von Sergej, mit einem kräftigen Ruck meine Hände vom Gesims. Er hält  mein Leben in der Hand, denke ich. Da lacht Sergej laut auf: 
"Das Spiel schreibt vor, nichts ohne Deine Einwilligung zu unternehmen. Das weißt Du doch, oder?" 
Ich nicke verzweifelt, wohl wissend, dass im nächsten Augenblick Tatjana, die Leidenschaftliche, mit unerhörten Versprechungen ihn ihren Augen wie eine Vision im Rahmen des Fensters erscheinen wird, um mir den Sprung in die Tiefe nahe zu legen.
"Soll ich loslassen, damit Du fliegen kannst? Fliegen in die Unergründlichkeit deiner Träume?", raunt mir Iwan zu und lockert seinen Griff. 
Mir bricht der Schweiß aus, und ich will mit dem Kopf schütteln, um den unvermeidlich scheinenden Sturz zu verhindern, da sehe ich den erhobenen Zeigefinger von Sergej und weiß sofort, was er zu bedeuten hat. Nur ein Wort! Ein unmißverständliches Ja oder Nein! Keine Gesten, die missdeutet werden könnten!
Da ist Tatjana heran. Ihre schwarzen Haare wehen in der Nacht. Ihre roten Lippen formen sich zu einem Hauch von einem Kuss und sie schließt langsam die Augen. Mit einem kaum merklichen Nicken wendet sie sich ab, und ich stöhne Iwan ein "Ja" entgegen. Sofort lässt er meine Handgelenke los. 
Für den Bruchteil einer Sekunde verharre ich bewegungslos vor der Fassade, so als ob eine Schicksalsgöttin doch noch die drohende Unvermeidlichkeit aufhalten könnte, dann löse ich mich bebend vom Haus. Blitzschnell verkleinert sich das Fenster und gerät aus meinem Blickfeld. Mein Körper kippt nach hinten ab. Ich stürze, nein ich fliege. Ein feuriger Blitz durchzuckt mein Herz und ich versuche, mich aus dem Traum herauszurütteln, bevor es zu spät ist. 
Mit einem tiefen Atemzug bemerke ich plötzlich, wie sich meine Augen schlaftrunken öffnen. Ich erwache. Doch bloß wieder ein Traum! Ach, Tatjana! Herzbefreiend durchströmt mich das süße Wohlbefinden, und meine Hand tastet nach der Bettdecke, um sie ... Da streift ein eisiger Wind mein Gesicht. Ich schaue entsetzt auf die Straße, unsere Straße in der Stadt, die mit atemberaubender Geschwindigkeit auf mich zustürzt. Doch kein Traum und aus der Traum! Kurz vor dem Aufprall will ich mir einen Schrei abringen, der zu einem  gurgelnden Laut verkommt.
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Aufrecht sitze ich im Bett und ringe nach Atem. Ich spüre den eisigen Flugwind an den Wangen. Meine Hände haben sich in die Bettdecke verkrampft. Da spüre ich Lores Hand auf der Schulter.
"Ruhig, mein Lieber! Ruhig!"
Meine Fäuste entspannen sich. Ich atme tief durch. Der eisige Wind ist verflogen. Ein Lichtschimmer sickert durch die Lamellen der Jalousie.
"Bist du wieder gestürzt?"
Ich nicke und wende Lore mein Gesicht zu.
"War es wieder das Fenster?"
"Das Fenster und die Russen", kommt es heiser aus mir heraus. "Und natürlich Tatjana!"
"Wir sollten heute unbedingt Doktor Stoilot aufsuchen."
Ich schüttle den Kopf, um den letzten Rest des verfluchten Traums zu vertreiben, erhebe mich und mache mich mürrisch auf den Weg in die Duschkabine.
Beim Frühstück schlucke ich schwer an jedem Bissen. Der Kaffee schmeckt bitter. Das grelle Sonnenlicht schmerzt und ich kneife die Augen zusammen.
"Vielleicht bist Du überarbeitet!"
Das war keine Frage, das war eine Feststellung. Ich empfinde diese seichte, mitleidige Stimme Lores immer unerträglicher. Tief schaut sie mir über den Rand ihrer Teetasse in die Augen. Sie versucht es immerhin, und ich denke "Tatjana!"
"Vielleicht trinkst Du auch zu viel Kaffee!"
"Ich bin sicher, daran wird es liegen", gebe ich sarkastisch zurück.
"Sei doch nicht gleich so ekelig. Ich will Dir doch nur helfen!"
"Nur?" Ich schaue sie an. "Lass' das bitte mit dem Helfen!" Ich beiße in das Marmeladenbrötchen und wende mich ab. Während ich zur Zeitung greife, steht Lore auf und beginnt mit dem Abräumen des Frühstückstisches. Dann hält sie plötzlich inne, und macht einen Schritt auf mich zu. 
"Sag' mal. Könnte es sein, dass Du diesen Traum suchst? Dass Du vielleicht die Gesellschaft der Russen ..."
Erschrocken fahre ich hoch. Die Zeitung fällt zu Boden. Lore lächelt. Meine Reaktion war verräterisch.
"Du meinst, ich flüchtete mich in den Traum?"
Lore neigt ihren Kopf, und wieder denke ich "Tatjana!"
"Fragt sich nur", gibt sie leise von sich, "wovor Du fliehst, wenn es sich so verhielte, wie ich vermute."
Ich fühle mich ertappt, und da ich von einem unseligen Gerechtigkeitsgefühl besessen bin, willige ich schließlich doch ein, mit Lore den Doktor aufzusuchen.
"Du weißt, er ist phantasievoll im Umgang mit Therapien. Er wird Dir interessante Modelle vorschlagen. Dann löst sich vielleicht ein Lebensknoten, in den auch Dein Albtraum verwoben ist."
Lore bringt Probleme auf den Punkt. Das mit dem Lebensknoten ist ein gutes Bild. Leuchtet mir ein. 
"Man könnte mit diesem Knoten so verfahren, wie Alexander einst mit dem gordischen ..."
Sie lacht und schüttelt den Kopf. "Oh nein, mein Lieber", entgegnet sie schnell, "Du könntest bei dieser martialischen Aktion Deinen Lebensnerv verletzen."
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Wir betreten den Lift, der uns die fünf Stockwerke sanft hinab in den Keller zu den Garagen befördert. Mit dem Auto fahren wir hinaus aufs Land und nähern uns den fernen Berge des Südschwarzwaldes. Wie herausgemeißelt erscheinen die Kirchturmspitzen der Dörfer in der Ebene und auch die höher gelegenen Höfe. Doktor Stoilot führt seine Praxis in einem Flecken am Fuß des Belchen. Ein kleiner Pfad führt hinauf über eine Wiese zum Anwesen des Therapeuten. Völlig zu Recht betont er, dass ein Spaziergang über die Felder zu seinem Haus schon wichtiger Bestandteil der Therapie sei, welche auch immer er verordnete. 
Die Nacht ist abgestreift, denke ich, und Tatjana hat ihren Glanz verloren. Allmählich entspanne ich mich. Wir plaudern. Lore schlägt vor, wir sollten, wenn es demnächst unsere Arbeit zuließe, eine längere Wanderung im Belchen-Gebiet unternehmen.
"Nichts lieber als das", stimme ich zu. "Vielleicht könnten wir sogar in einem Gasthaus nächtigen, um am nächsten Morgen unseren Rundweg zu vollenden!" 
Lore schmunzelt. Nach einiger Zeit haben wir die Villa des Doktors erreicht. Die Kirchturmglocken läuten. Lore zieht am Glöckchenseil des herrschaftlichen Säulenportikus. 
"Fühlst Du dich nicht auch wie ein Tempelbesucher, der vor dem Allerheiligsten um Absolution bittet?"
Lore zuckt mit den Schultern. "Kann schon sein!" Sie lächelt vieldeutig.
Die Tür schwingt auf. Fräulein Munzer begrüßt uns mit ihrem Standardsatz: "Ein kleines Momentchen noch, der Doktor ist auf dem Weg." 
Dann erfolgt das Ritual: Sie geleitet uns in den weißen Raum, bittet uns, Platz zu nehmen, wechselt ein paar unverbindliche Worte, schreitet dann auf die hohe weiße Tür am Ende des Zimmers zu, öffnet sie und raunt zu uns herüber: "Der Doktor lässt bitten."
Dort sitzt er, wie ein Oberpriester. Sein langes weißes wallendes Haar verwirbelt sich in elegante Locken, die seine Schultern umspielen. Sein kurzer, sorgfältig gestutzter Kinnbart ragt vor wie ein Schiffsbug. Aus dunkel getönten Brillengläsern schaut er mich an:
"Wieder Tatjana und die Russen?"
Ich nicke ergeben.
"Fensterspiele?"
Ich halte den Atem an und senke meine Augenlider. Lore ist neben mich getreten und hält meine Hand.
"Sie sollten ihren Traum konkretisieren!"  Doktor Stoilot erhebt sich, umschreitet den schweren Ebenholztisch, verneigt sich kurz vor dem Bild seines großen Meisters, und kommt auf mich zu:
"Konkretisieren heißt, Ihren Traum in eine Aktion des Alltags zu überführen!" Und noch bevor ich meine Verwunderung in Worte fassen kann, ergreift er mich am Arm und führt mich zum Fenster. Er reißt die weißen Vorhänge mit einem wilden Schwung zurück und ruft aus: 
"Da, die Großstadt! Die Hochhäuser! Tatjana und die Russen! Machen sie sich auf den Weg!"
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Unvermittelt stehe ich auf der Straße. Der abendliche Berufsverkehr tost an mir vorüber. Passanten drängen mich vom weißen Palast des Doktors fort, und bald treibe ich im Strom der vielen tausend Menschen, die ruhelos mir unbekannten Zielen entgegenhasten. Weit hinter mir glaube ich meinen Namen rufen zu hören, und als ich mich umdrehe, erblicke ich das schwache und verzweifelte Winken Lores. 
Plötzlich steht Sergej vor mir. 
"Da ist er ja, unser Meister!" Ich zucke erschrocken zurück. "Auf!" ruft er mir zu. "Auf zu einer neuen Spielrunde!" Dann beugt er sich vor und flüstert mir ins Ohr: "Tatjana wartet!" 
Ich versuche ihn zu verscheuchen, will ihn von mir fortdrücken. Doch merke ich, wie hilflos meine Gesten, wie kraftlos meine Abwehrbewegungen sind. Nicht einmal ein Kopfschütteln will mir gelingen. Und noch einmal raunt er mir den Namen zu: "Tatjana!" 
Hitze steigt in mir empor, und mit flackernden Blicken suche ich sein Gesicht nach verborgenen Hinweisen ab. Seine Augen weiten sich und sein Gesicht beginnt zu zittern, was ich als Bestätigung meiner heimlichen Wünsche deute. Als er meine Zustimmung bemerkt, lacht er auf und: 
"Leo ist schon bereit. Er steigt gerade auf das Fensterbrett. Siehst Du, wie er die Wodka-Flasche schwingt?" 
Ich reiße meinen Kopf nach oben und mache im sechsten Stockwerk die aus der Fassade herauswehenden Rockschöße von Leo aus.
"Und Iwan?" frage ich stockend. Sitz er vor dem Flügel und...?" 
"Jawohl", unterbricht mich Sergej. "Iwan stimmt die Teufelspolka an, und ..." 
"Und Tatjana tanzt!"
Wir haben schon das Treppenhaus erreicht und eilen die Stufen hoch. Zwei, drei nehmen wir auf ein Mal. Atemlos stehen wir vor der Tür, die Sergej aufdrückt. Mein Herz klopft, es springt und droht zu zerspringen. Tajtana steht mit hoch geschürztem Kleid in der Mitte des mit einem roten Veluor-Teppich ausgelegten Saals.  Ein Bein hat sie in die Höhe gezogen und angewinkelt. Den linken Arm hält sie über dem Kopf. Ihre Tanzpose elektrisiert mich. Tausend Kerzen brennen und flackern auf in ihren Augen. Ihr roter Kirschmund, feucht und vor Erregung zitternd, ist halb geöffnet. Da erblicke ich Leo im offenen Fensterrahmen. Gebeugt und in einer halben Hockstellung verharrend, kauert er mit unsicher kippelnden Füßen auf der unteren Leiste. Mit der Linken hält er sich ungeschickt am Rahmen fest. In der Rechten schwingt er die bereits geöffnete Flasche Wodka. Er schaut zu mir herüber und ruft: 
"Wenn der Tanz verklungen, geleert ist dann die Flasche!" 
Und mit einem wilden "Ha!" löst er seine linke Hand vom Rahmen, richtet sich ein wenig auf, hebt die Flasche und setzt an. Im Hintergrund kauert Iwan wie eine Chimäre über der Tastatur des schwarzen Flügels. Er hebt die Arme, richtet sich ein wenig auf, fällt dann unvermittelt in sich zusammen und läßt die Hände auf die Tasten fallen. Die ersten Akkorde erklingen und lösen sich auf in ein ergreifendes Stakkato, das er in teuflische Tiefen treibt. Tatjana wirbelt herum, und während Iwan allmählich zu seinem Polka-Rhythmus vordringt, schwankt Leo im Fensterrahmen und trinkt. Mutwillig beugt er seine Knie im Takt der Polka. Sein Arm, ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, rudert hilflos in der Luft vor der Fassade. 
Leos Gesicht rötet sich. Er trinkt. Luftblasen sprudeln durch den Flaschenhals, während sich die Flüssigkeit in kurzen aufgewühlten und sich überstürzenden Wellen absenkt. Iwan hat zu einer wilden Passage angesetzt. Die Töne knattern wie aus einem Maschinengewehr hervor und verschlingen die Melodien. Tatjana verwandelt sich gerade in einen schwarzen Wirbel, der von roten Farbtupfern durchzuckt wird. Dann hämmert Iwan Dissonanzen ins Gerät. Die kleine Seitentür springt auf. Fjodor erscheint. Sein diabolisches Grinsen verzerrt sich zu einer Fratze. Er streckt die Zunge heraus, und, an Sergej gewand, zischelt er: 
"Und? Ist es vollbracht?" 
"Die Hälfte ist runter!" Flüstert Sergej und deutet auf Leo, dessen Augen hervorquellen und starr auf den Wodkapegel gerichtet sind. Er ist in die Knie gegangen und hat seinen Kopf in den Nacken geworfen. Die Flasche ragt wie eine Säule aus seinem Mund in die Höhe. Sein Kehlkopf gleitet in ruckenden Bewegungen auf und ab. Jetzt rutscht ein Fuß vom schmalen Rahmen und gleitet auf das abschüssige Gesims. Der Arm greift weit aus und rudert vor der Fassade, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. In einer beängstigenden Schieflage windet sich Leo um seine Achse, strauchelt, schlägt mit dem Knie gegen den Seitenrahmen und ... 
Ich schreie auf, und Sergej ist heran, um mir seine Hand vor den Mund zu legen. Tatjana katapultiert sich in die Höhe und, wieder zurück auf dem Boden, wendet sie sich graziös Iwan zu, um wie ein Dirigent von ihm den Schlußakkord einzufordern. Dann tänzelt sie mit Kreuzschrittchen dem Fenster entgegen, um  sich vor Leo zu verneigen. Der reißt die Flasche aus seinem Schlund, hält sie mit der Öffnung nach unten, und während sich Iwan auf die Tastatur stürzt, um das finale Getöse seiner Teufelspolka zu eröffnen, beugt sich Leo mit seinem trunkenen Schädel weit nach vorn, um ins Zimmer zu springen. 
Tatjana lacht, und mit herrischer Stimme ruft sie dem Wagemutigen zu: "Vollende Deinen Traum! Fliege!" Da bäumt sich Leos Körper auf und schnellt wie ein gespannter Bogen zurück. Ein Bein schießt in die Höhe und mit einer unglaublichen Verrenkung, die der menschlichen Anatomie zu widersprechen scheint, gleitet er aus dem Rahmen nach draußen. Fast zärtlich, ohne den Versuch erkennen zu lassen, Halt zu finden, streicht seine Hand über die Fensterbank. Dann stürzt er. Die leere Wodkaflasche fällt auf den Teppich und rollt vor die Füße Tatjanas.
Stille. Mit rauchiger Stimme, und unter dem beifälligen Nicken von Fjodor, weist Tatjanas  Sergej an, dem entschwundenen Flieger die letzte Ehre mit einem Handstand auf der äußeren Fensterbrüstung zu geben. Mit feurigem Blick und gewagtem Sprung setzt Sergej über den Rahmen und landet mit seinen Händen auf dem Gesims. Der Schwung läßt seinen Körper in die Höhe schnellen, so dass er sekundenschnell mit angewinkelten Beinen im Handstand zur Ruhe kommt. Fjodor ist rasch heran, greift in das Gesicht von Sergej und ruft, zu Iwan gewandt, "Auf zum Dämonentanz!"
Da passiert etwas Unglaubliches. Die Arme von Sergej knicken ein. Eine Hand löst sich vom Gesims und schießt vor zum erstaunten Fjodor. Ein klatschendes Geräusch, und der Gestrafte hält sich mit blöden Augen die Wange. Derweil ist Sergej verschwunden, doch konnten seine Hände den unteren Fensterrahmen ergreifen. Sein Kopf katapultiert sich in die Höhe und unmittelbar danach segelt sein Körper in das Zimmer zurück. Er vollführt eine Rolle vorwärts, kommt zum Stehen und verneigt sich vor Tatjana, die sich gleichgültig abwendet.
Nun steht sie neben mir und legt ihre Hand auf meine Schulter. 
"Jetzt Du!"
"Das Spiel mit den vertauschten Perspektiven?" 
Sie schaut mich an und senkt ihren Kopf. Sergej klatscht in die Hände, und Fjodor baut sich vor dem Fenster auf, um mir mit einladender Geste, das Draußen schmackhaft zu machen. Mit zagendem Herzen begebe ich mich zum Fenster und schaue heraus. Tief unter mir das verhasste Szenarium. Winzige Fahrzeuge mit ihren Lichtkegeln. Dann klettere ich auf das Fensterbrett, drehe mich langsam um, schaue in den Raum direkt in das Gesicht von Tajana, die noch immer ihren Kopf gesenkt hat, und lasse meine Beine langsam nach draußen gleiten. Endlich habe ich mit den Füßen Halt gefunden.
"Nun musst du den Dämonentanz über Dich ergehen lassen", ruft mir Iwan zu, und beginnt eine Passage, die mit süßesten Klängen mein Gemüt umschmeichelt. Fjodor ruft "Achtung!" wobei er die letzte Silbe in die Länge zieht. Da brechen die grausamen Töne aus dem Flügel hervor und drücken mich in die Finsternis hinaus, die nur noch aus Tiefe besteht...
Iwan hat sein Instrument verlassen und ist zu mir vorgestürmt, um meine Hände zu ergreifen. 
"Jetzt gilt es!" 
Die anderen klatschen. "Meister, nun mußt Du fliegen!" Tatjana beugt sich aus dem Fenster zu mir heraus, haucht mir einen Kuss entgegen und lispelt mir mit einem herzerwärmenden Stimmchen zu: 
"Fliege durch Deinen Traum!"
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Ich schließe die Augen, löse die Hände vom Rahmen und lasse mich fallen. In diesem Augenblick erscheint Laura im Fenster und verfolgt mit schreckensgeweiteten Augen meinen Flug. Ich kann sie genau erkennen und höre das Rauschen meines Falls. Dann durchzuckt mich der Blitz grell und bissig und versinkt alsbald in einer tiefschwarzen Wolke. Ein Bild wird mir noch zugespielt: Menschen laufen zusammen und bilden einen weiten Kreis um mich.

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