Neuenburgs Geschichte - ein vielfältiges und spannendes Kapitel in Südbaden
Anna Selbdritt in der Liebfrauenkirche
Die im Jahr 1953 eingeweihte katholische Liebfrauenkirche blickt auf eine traurige Geschichte zurück. Ihr Erbe beläuft sich auf sechs Vorgängerkirchen, die im Laufe der Jahrhunderte durch Kriegswirren zerstört wurden. Der moderne Bau wirkt nüchtern und kahl. Doch sollte man sich von dem kühlen Ambiente nicht hindern lassen, einen Rundgang zu unternehmen. Dann nämlich stößt man unwillkürlich auf eine Nische an der Nordwand rechts vom Chor, in die eine lebhafte Figurengruppe platziert ist. Auf einem Kissen zwischen zwei Frauen, die einander zugewandt sind und auf einer Bank sitzen, tänzelt ein kleiner nackter Zwei- oder Dreijähriger. Die junge bekrönte Frau hält stolz das Kind, und die ältere Dame, wie eine Matrone wirkend, greift zart zur Hand des Kleinen. Sie hat den Kopf etwas zur Seite geneigt, um ihm in die Augen zu schauen.
Anna Selbdritt , um 1470 Neuenburg am Rhein, Liebfrauenkirche
Natürlich handelt es sich
hier um ein sakrales Szenarium, doch so beschrieben wie oben wird der Realismus
verdeutlicht und damit die Neigung zur profanen Genreszene offenbar. Das war
auch die Absicht des Künstlers, der etwa um 1470 die Skulpturengruppe aus
Lindenholz geschaffen hat: "Anna Selbdritt". Maria, bereits als
Himmelskönigin mit einer Krone versehen, und ihre Mutter Anna erfreuen sich am
Erlöser Jesus Christus, der, noch nichts von seinem späteren Martyrium ahnend,
fröhlich lächelnd die Zuneigung von Mutter und Großmutter genießt.
Seit dem Mittelalter ist
diese als Andachtsbild ausgewiesene Figurengruppe von Anna, dem Christuskind
und Maria bekannt und oftmals in Darstellungen der "Heiligen Sippe"
integriert. Auffallend ist das traditionelle grüne Kleid, das Anna trägt, ein
Hinweis auf die in das Kind Gottes gesetzte Hoffnung auf Erlösung. Auch ihr rot
gefütterter goldener Umhang entspricht den frühchristlichen Vorstellungen,
insofern Rot als Farbe des Heiligen Geistes galt. Diese Bedeutung wird
ebenfalls im unübersehbaren und wie ein Signal wirkenden roten Ärmel Mariens manifest.
Ihr blau gefütterter goldener Umhang weist sie als Himmelskönigin aus.
Die spätgotischen Skulpturen
dieser Zeit, besonders die vom Oberrhein und dessen künstlerischer Zentrale
Straßburg, haben mit dem bewegten und kompakten Faltenspiel der Gewänder, den
individuell gestalteten Physiognomien und den dynamischen Körperbewegungen
einen großen Schritt aus dem Mittelalter vollzogen und den Weg zur Renaissance
nördlich der Alpen gewiesen.
Wer war der Meister der "Neuenburger Anna
Selbdritt"? Es ist anzunehmen, dass
diese Arbeit aus dem oberrheinischen Gebiet stammt und damit aufmerksam macht auf
dessen künstlerisches Zentrum Straßburg. Zu Beginn der zweiten Hälfte des
15. Jahrhunderts dominierte ein Meister in der elsässischen Freien Reichsstadt,
der holländische Bildhauer Niclas Gerhaert van Leyden, der sich zu Beginn der
sechziger Jahre in Straßburg niederließ und 1463 die Bürgerrechte erwarb. Vier
Jahre später zog er weiter Richtung Bodensee.
Nicolaus Gerhaert, Straßburger Sibylle, 1463
Haguenau, Musée Historique de
la Ville
Es liegt nahe, dass Gerhaert
in seiner Werkstatt auch Meister ausbildete, so dass sich im Laufe der Jahre Bildhauer mit eigenen
Ateliers nicht nur in der elsässischen Metropole, sondern auch im engeren
und weiteren Umkreis links und rechts des Rheins niederließen. Keine Frage,
dass diese Meister und ihre Gesellen dem Stil des großen Vorbilds verpflichtet
waren, so dass in ihren Arbeiten typische Merkmale Gerhaerts in
unterschiedlichen Varianten auftauchen.
Die Mundpartie mit den tief
in die Wange eingefurchten Mundwinkeln der sogenannten "Straßburger
Sibylle" von 1463, die Gerhaert für die "Neue Kanzlei" zusammen
mit dem Stadtwappen und weiteren Sibyllen sowie Propheten des Alten Testaments
geschaffen hat, zeigt verblüffende Ähnlichkeit mit der Physiognomie des
Neuenburger Mutter-Tochter-Paars. Dieser individualisierende Zug, der sakrales
Pathos nicht aufkommen lässt, gilt als typisches Stilmerkmal der Kunst
Gerhaerts.
Maria Magdalena, Meister des Nördlinger Altars, um
1470
Nördlingen, St. Georg / Badischer Kirchenbesitz
Das entschieden
Volkstümliche seiner Figuren war neu und fand in der Bevölkerung Anklang. Wir
kennen viele oberrheinische Heiligen-Darstellungen aus dieser Zeit, die diese mimische Ausformung des Gesichts in abgewandelter Form übernommen haben. Die
Heilige Maria Magdalena, etwa um 1470 vermutlich in Straßburg entstanden, wird
dem Meister des Nördlinger Hochaltars zugeschrieben. Die Form und die leichte
Neigung des Kopfes nach links sowie die Gestaltung der Mundpartie ist mit der
"Neuenburger Maria" zu vergleichen und dürften dem Stilgefühl und der
Motivik des Meisterkreises von Niclas Gerhaert nachempfunden sein.
Anna Selbdritt (Detail), um 1470
Neuenburg am Rhein, Liebfrauenkirche
Eng verwandt mit dem Nördlinger Altar erweist sich
in stilistischer Hinsicht die "Anna Selbdritt" des Lautenbacher
Altars, der um 1500 geschnitzt wurde. Die Forschung ordnet den oberrheinischen
Meister einer Werkstatt in Basel zu. Die Komposition ist der Neuenburger Arbeit
eng verwandt. Man könnte sogar von einer Szenenfolge sprechen, deren erste
Etappe der "Lautenbacher Meister" schildert: Das Jesuskind befindet
sich noch im Arm seiner Mutter und setzt gerade zum Sprung an, denn Anna hat
die weit geöffneten Arme ausgestreckt – was für ein hinreißendes Genrebild!
Meister des Lautenbacher Altars, um 1500
Lautenbach/Haut - Rhin, Ancienne Collégiale
In dieser Figurengruppe ist
der markante Faltenwurf kennzeichnend und auch maßgebend für die Datierung um
1500: Die kleinteiligen und ausdifferenzierten Faltungen weisen bereits ins 16.
Jahrhundert. Die im fließenden Duktus eher behäbigen und kompakten Falten der
Nördlinger Maria Magdalena sind dagegen noch eng der zweiten Hälfte des 15.
Jahrhunderts verhaftet und stehen damit auch in zeitlicher Nähe zur Neuenburger
Anna Selbdritt.
Im Vergleich mit den beiden
zuletzt beschriebenen Skulpturen, denen noch weitere oberrheinische Arbeiten
dieser Zeit zur Seite zu stellen wären, ist die künstlerische Qualität der
Neuenburger Anna Selbdritt höher anzusetzen – trotz der unglücklichen
Restaurierung von 1975. Diese
Einschätzung würde bedeuten, dass die Figurengruppe von einem Meister aus dem
engen Umkreis von Niclas Gerhaert, wenn nicht gar in seiner eigenen Werkstatt
entstanden ist.
Denkbar wäre, dass in Dorf-
oder Stadtkirchen in der näheren oder weiteren Umgebung stilistisch eng
verwandte Skulpturen zu finden sind. In diesem Fall könnte die Stadt am Rhein
einen "Meister der Neuenburger Anna Selbdritt" vorweisen.
... wird fortgesetzt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen