Freitag, 11. Oktober 2013

Neuenburger Bilderbogen

Neuenburgs Geschichte - ein vielfältiges und spannendes Kapitel in Südbaden
  
Anna Selbdritt in der Liebfrauenkirche
 
Die im Jahr 1953 eingeweihte katholische Liebfrauenkirche blickt auf eine traurige Geschichte zurück. Ihr Erbe beläuft sich auf sechs Vorgängerkirchen, die im Laufe der Jahrhunderte durch Kriegswirren zerstört wurden. Der moderne Bau wirkt nüchtern und kahl. Doch sollte man sich von dem kühlen Ambiente nicht hindern lassen, einen Rundgang zu unternehmen. Dann nämlich stößt man unwillkürlich auf eine Nische an der Nordwand rechts vom Chor, in die eine lebhafte Figurengruppe platziert ist. Auf einem Kissen zwischen zwei Frauen, die einander zugewandt sind und auf einer Bank sitzen, tänzelt ein kleiner nackter Zwei- oder Dreijähriger. Die junge bekrönte Frau hält stolz das Kind, und die ältere Dame, wie eine Matrone wirkend, greift zart zur Hand des Kleinen. Sie hat den Kopf etwas zur Seite geneigt, um ihm in die Augen zu schauen.
 
 
Anna Selbdritt , um 1470 Neuenburg am Rhein, Liebfrauenkirche
 
Natürlich handelt es sich hier um ein sakrales Szenarium, doch so beschrieben wie oben wird der Realismus verdeutlicht und damit die Neigung zur profanen Genreszene offenbar. Das war auch die Absicht des Künstlers, der etwa um 1470 die Skulpturengruppe aus Lindenholz geschaffen hat: "Anna Selbdritt". Maria, bereits als Himmelskönigin mit einer Krone versehen, und ihre Mutter Anna erfreuen sich am Erlöser Jesus Christus, der, noch nichts von seinem späteren Martyrium ahnend, fröhlich lächelnd die Zuneigung von Mutter und Großmutter genießt.
 
Seit dem Mittelalter ist diese als Andachtsbild ausgewiesene Figurengruppe von Anna, dem Christuskind und Maria bekannt und oftmals in Darstellungen der "Heiligen Sippe" integriert. Auffallend ist das traditionelle grüne Kleid, das Anna trägt, ein Hinweis auf die in das Kind Gottes gesetzte Hoffnung auf Erlösung. Auch ihr rot gefütterter goldener Umhang entspricht den frühchristlichen Vorstellungen, insofern Rot als Farbe des Heiligen Geistes galt. Diese Bedeutung wird ebenfalls im unübersehbaren und wie ein Signal wirkenden roten Ärmel Mariens manifest. Ihr blau gefütterter goldener Umhang weist sie als Himmelskönigin aus.
Die spätgotischen Skulpturen dieser Zeit, besonders die vom Oberrhein und dessen künstlerischer Zentrale Straßburg, haben mit dem bewegten und kompakten Faltenspiel der Gewänder, den individuell gestalteten Physiognomien und den dynamischen Körperbewegungen einen großen Schritt aus dem Mittelalter vollzogen und den Weg zur Renaissance nördlich der Alpen gewiesen.
 
Wer war der Meister der "Neuenburger Anna Selbdritt"? Es ist anzunehmen, dass diese Arbeit aus dem oberrheinischen Gebiet stammt und damit aufmerksam macht auf dessen künstlerisches Zentrum Straßburg. Zu Beginn der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts dominierte ein Meister in der elsässischen Freien Reichsstadt, der holländische Bildhauer Niclas Gerhaert van Leyden, der sich zu Beginn der sechziger Jahre in Straßburg niederließ und 1463 die Bürgerrechte erwarb. Vier Jahre später zog er weiter Richtung Bodensee.
 
Nicolaus Gerhaert, Straßburger Sibylle, 1463
Haguenau, Musée Historique de la Ville
 
Es liegt nahe, dass Gerhaert in seiner Werkstatt auch Meister ausbildete, so dass sich im Laufe der Jahre Bildhauer mit eigenen Ateliers nicht nur in der elsässischen Metropole, sondern auch im engeren und weiteren Umkreis links und rechts des Rheins niederließen. Keine Frage, dass diese Meister und ihre Gesellen dem Stil des großen Vorbilds verpflichtet waren, so dass in ihren Arbeiten typische Merkmale Gerhaerts in unterschiedlichen Varianten auftauchen.
 
Die Mundpartie mit den tief in die Wange eingefurchten Mundwinkeln der sogenannten "Straßburger Sibylle" von 1463, die Gerhaert für die "Neue Kanzlei" zusammen mit dem Stadtwappen und weiteren Sibyllen sowie Propheten des Alten Testaments geschaffen hat, zeigt verblüffende Ähnlichkeit mit der Physiognomie des Neuenburger Mutter-Tochter-Paars. Dieser individualisierende Zug, der sakrales Pathos nicht aufkommen lässt, gilt als typisches Stilmerkmal der Kunst Gerhaerts.
 
Maria Magdalena, Meister des Nördlinger Altars, um 1470
Nördlingen, St. Georg / Badischer Kirchenbesitz
 
Das entschieden Volkstümliche seiner Figuren war neu und fand in der Bevölkerung Anklang. Wir kennen viele oberrheinische Heiligen-Darstellungen aus dieser Zeit, die diese mimische Ausformung des Gesichts in abgewandelter Form übernommen haben. Die Heilige Maria Magdalena, etwa um 1470 vermutlich in Straßburg entstanden, wird dem Meister des Nördlinger Hochaltars zugeschrieben. Die Form und die leichte Neigung des Kopfes nach links sowie die Gestaltung der Mundpartie ist mit der "Neuenburger Maria" zu vergleichen und dürften dem Stilgefühl und der Motivik des Meisterkreises von Niclas Gerhaert nachempfunden sein.
 
Anna Selbdritt (Detail), um 1470
Neuenburg am Rhein, Liebfrauenkirche
 
Eng verwandt mit dem Nördlinger Altar erweist sich in stilistischer Hinsicht die "Anna Selbdritt" des Lautenbacher Altars, der um 1500 geschnitzt wurde. Die Forschung ordnet den oberrheinischen Meister einer Werkstatt in Basel zu. Die Komposition ist der Neuenburger Arbeit eng verwandt. Man könnte sogar von einer Szenenfolge sprechen, deren erste Etappe der "Lautenbacher Meister" schildert: Das Jesuskind befindet sich noch im Arm seiner Mutter und setzt gerade zum Sprung an, denn Anna hat die weit geöffneten Arme ausgestreckt – was für ein hinreißendes Genrebild!
 
Meister des Lautenbacher Altars, um 1500
Lautenbach/Haut - Rhin, Ancienne Collégiale
 
 
In dieser Figurengruppe ist der markante Faltenwurf kennzeichnend und auch maßgebend für die Datierung um 1500: Die kleinteiligen und ausdifferenzierten Faltungen weisen bereits ins 16. Jahrhundert. Die im fließenden Duktus eher behäbigen und kompakten Falten der Nördlinger Maria Magdalena sind dagegen noch eng der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verhaftet und stehen damit auch in zeitlicher Nähe zur Neuenburger Anna Selbdritt.
Im Vergleich mit den beiden zuletzt beschriebenen Skulpturen, denen noch weitere oberrheinische Arbeiten dieser Zeit zur Seite zu stellen wären, ist die künstlerische Qualität der Neuenburger Anna Selbdritt höher anzusetzen – trotz der unglücklichen Restaurierung von 1975.  Diese Einschätzung würde bedeuten, dass die Figurengruppe von einem Meister aus dem engen Umkreis von Niclas Gerhaert, wenn nicht gar in seiner eigenen Werkstatt entstanden ist. 
Denkbar wäre, dass in Dorf- oder Stadtkirchen in der näheren oder weiteren Umgebung stilistisch eng verwandte Skulpturen zu finden sind. In diesem Fall könnte die Stadt am Rhein einen "Meister der Neuenburger Anna Selbdritt" vorweisen.
 
 
... wird fortgesetzt.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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