Samstag, 23. Januar 2016

Millennium-Trilogie Bd 4?




David Lagercrantz
nach Stieg Larsson
Verschwörung

Heyne 2015

Wer die Millennium-Trilogie vom schwedischen Autor Stieg Larsson gelesen, besser: verschlungen hat, wird sich an den Star-Journalisten Mikael Blomquist und die Hackerin Lisbeth Salander erinnern  - mit Wehmut, denn es wird bei dieser Trilogie bleiben. Stieg Larsson durfte den unglaublichen und weltweiten Erfolg seiner Bücher nicht mehr erleben. Er starb im Jahre 2004 überraschend an einem Herzinfarkt – gerade einmal 50 Jahre alt geworden.
Und plötzlich, wie aus dem Nichts, steht ein wohl nur in Schweden bekannter Schriftsteller mit einem vierten Millennium-Band in der Hand vor uns. Der Titel: Verschwörung. Der Autor: David Lagercrantz, 1962 in Solna, Schweden geboren und Verfasser einer Biografie des schwedischen Fußball-Stars Ibrahimovic. 

Erfand Lagercrantz eine eigene Millennium-Story , oder betrat er bereits skizzierte oder gar -geschriebene Erzählpfade aus der Feder Stieg Larssons? In der Literaturwelt machte überraschenderweise ein vierter Band die Runde, den Larssons Lebensgefährtin Eva Gabrielsson angeblich besitzt. Doch das Manuskript hatte sie nie vorgelegt. Statt dessen stürzte sie sich in einen aussichtslosen Erbstreit mit der Familie Larsson. Die Eltern wussten offensichtlich, dass ihr verstorbener Sohn bereits zehn Bände mit dem ungleichen Paar Salander-Blomquist in Planung hatte. Was lag da näher, zusammen mit dem Verlag einen Schriftsteller zu finden, der geeignet schien, ein weltweites auf Fortsetzungen und Serien süchtiges Publikum zu beglücken. 

Zwei Jahre soll Lagercrantz an dem Manuskript gearbeitet haben. Nun liegt das Buch vor. Kann man es unvoreingenommen lesen? Wohl kaum. Jeder Dialog, jede Erzählkonstruktion und jeder Spannungsbogen wird auf die Stieg-Larsson-Waagschale geworfen in Erwartung, dass die von Lagercrantz als zu leicht befunden wird. Dem ist ganz und gar nicht so.

Der Roman beginnt mit dem Satz: „ Franz Balder hat sich immer für einen erbärmlichen Vater gehalten.“ Damit klingt das Leitmotiv an und verästelt sich kunstvoll in der Salander-Blomquist-Handlung, die sich in einem Labyrinth von russischen Auftragskillern und Agenten der amerikanischen Sicherheitsbehörde NSA entfaltet. Dass nun gerade diese beiden doch sehr unterschiedlichen Gruppierungen zusammen gesehen werden, kommentiert Blomquist trocken gegen Ende des Romans: 
Der Staat und die Mafia haben schon immer im selben Ring gekämpft.  
Hier handelt es sich um das Grundthema des Romans, das unter anderem der aktuellen Weltpolitik entlehnt ist. Im Zentrum steht der Sohn Balders, ein Savant, ein entwicklungsgestörter Junge, der mit außergewöhnlichen mathematischen und zeichnerischen Leistungen, die gepiercte Hackerin Salander, den Journalisten Blomquist und den die Killer jagende und hoffnungslos überforderte Polizei in Atem hält. 
  
Viele Jahre ist es her, dass die Millennium-Trilogie erschienen ist. Vieles hat man heute über die Charaktere und die Handlung vergessen. Der erste Auftritt Lisbeth Salanders rüttelt die Leser wach: Blomquist telefoniert mit einem Informanten, der vom Besuch Lisbeths, einem mageren, tätowierten und gepiercten Grufti oder Punk, berichtet. Sie soll seinen Computer auf einen Virus untersuchen. Doch bevor sie ihre Arbeit aufnimmt, schickt sie den Informanten aus der Wohnung. Der protestiert, und sie gibt knapp zurück: „Los, hau ab, verpiss dich!“

Rückblickend an passender Stelle die personale Basis der vergangenen Romane kurz zu referieren und Personen zu charakterisieren, erweist sich als eine geniale Wendung: Lisbeths kurzer Auftritt reicht aus, um diese schillernde Figur erneut zum Leben zu erwecken, so dass wir in die alten Geschichten zurück und vorwärts in die neue Story gleiten. Das Einbetten von Larssons Figuren-Konstellationen ist hilfreich und stört den rasanten Handlungsverlauf nicht. Ganz im Gegenteil: Ein wenig Ruhe und Durchatmen tut gut während dieses 600 Seiten langen Lese-Marathons. 

Die mitreißend inszenierte Spannungs-Choreografie lässt stellenweise außergewöhnliche Bilder entstehen und treibt den Handlungsverlauf voran, so dass der Leser zuweilen atemlos zurückbleibt. Der Killer verfolgt seine Opfer, hat sie im Visier und schießt und trifft und schießt wieder. 
Doch der Junge und die Frau hatten sich bereits hinter ein Auto gerollt. Jan Holtser holte tief Luft und sah sich um. Dann stürmte er wie bei einem Kommandoeinsatz quer über die Straße. Noch einmal wollte er nicht versagen. 
Absatz, neuer Handlungsabschnitt. Der Leser muss sich gedulden, doch das vergisst er schnell, da das Geschehen mit anderen Personen wieder an Brisanz gewinnt. Und plötzlich befinden wir uns dort, wo uns eben noch die nicht vollendete Aktion entlassen hat.
Dieses fein gesponnene Netz unterschiedlicher Erzählstränge scheint die Leser in eine Parallelwelt zu entführen, in der die handelnden Personen immer mehr an Kontur gewinnen und das Szenarium fast visuell fassbar wird.  

Zum poetischen Baukasten des Autors gehört ebenfalls die Technik der verdeckten Anspielung: Blomquist trifft eine wunderschöne Frau. Verfolgte sie ihn? Wollte sie ihn treffen? Sie kommen miteinander ins Gespräch, in dessen Verlauf sie ihm … ein bezauberndes Lächeln schenkt, das von einer plötzlichen Sehnsucht oder einem Versprechen erfüllt zu sein scheint. An dieser Stelle steigen unheilvolle Ahnungen in einem auf. Tappt Blomquist in eine Falle, oder sieht der übermüdete Journalist Gespenster?

Auch die Wahl der Perspektiven mutet manchmal faszinierend und abenteuerlich an. Dafür nur ein Beispiel: Ein Zeuge, gekleidet wie ein Clown, wird von der Polizei zu einem Überfall befragt. Der hat das Geschehen aus einer beträchtlichen Entfernung beobachtet und alles genau verfolgt. Einen Punkt auf einem Felsvorsprung identifiziert er als kleinen Jungen, der von einer heran fliegenden Gestalt, offensichtlich einem mageren Mädchen, gepackt und in Deckung gebracht wird, während Schüsse fallen. Die Killer nähern sich, und es wird wohl nur Sekunden dauern, bis die beiden entdeckt werden. Da springt das Mädchen auf und … Nun, mehr kann an dieser Stelle natürlich nicht verraten werden. Das Szenarium mag sich vor den Augen des Lesers wie eine Filmsequenz abspielen, und man kann hoffen, dass bei einer möglichen Verfilmung ein schwedischer Regisseur (bitte keinen Hauf-Drauf-Regisseur aus Hollywood!) gefunden wird, der diese Passage treffend umzusetzen versteht.


Einen Handlungsverlauf an dieser Stelle zu referieren, was vielleicht erwartet wird, halte ich für entbehrlich bis hinderlich. Lassen Sie sich überraschen von diesem Feuerwerk von Aktionen, sinnierenden Betrachtungen, kecken und ausgefeilten Dialogen sowie von den plastisch herausgearbeiteten Charakteren. Sie werden das poetische Verhältnis von Stieg Larsson und David Lagercrantz ausloten, und dann urteilen Sie.

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