Jo Nesbø und sein Kommissar Harry Hole
Durch Zufall fiel mir vor knapp einem Jahr ein Harry-Hole-Krimi vom norwegischen Schriftsteller Jo Nesbø in die Hände. Von der ersten Seite an war ich gefesselt, tauchte ein in die Geschichte und konnte mich vielleicht ein, zwei Tage davonstehlen, um wichtige Arbeiten zu erledigen. Dann versenkte ich mich wieder in den Harry-Hole-Kosmos. Manchmal war es tatsächlich anstrengend, die Spannung auszuhalten, und am Ende war ich froh, dass Hole die Sache gemeistert hat – wenn auch mit teilweise erheblichen Verletzungen und unter bitteren Opfern. Das war Der Fledermausmann, der erster Fall des Osloer Kommissars. Es folgten acht weitere Bände, und Nesbø ist das Unglaubliche gelungen: Er konnte sich von Fall zu Fall erzählerisch steigern.
Es ist nicht nur die Spannung, die der norwegische Autor immer wieder neu und in vielen Schattierungen aufbaut, sondern ganz besonders auch die Schilderung menschlicher Verstrickungen, Verzweiflungen und Ängste. Er bereitet Schicksale verschiedener Charaktere und Milieus wie einen krausen, löchrigen Teppich aus, der kaum noch Strukturen oder Farben erkennen lässt. Und in dieser teilweise desaströsen Unübersichtlichkeit agiert er, Harry Hole, der selbst mit Gespenstern aus seiner eigenen Vergangenheit kämpft und diese immer wieder vergeblich mit übermäßigem Alkoholgenuss in Schach zu halten versucht. In einem späteren Band gesteht er schließlich: Ja, ich bin ein Alkoholiker und entgehe meinem Schicksal nicht. Oder doch? Tatsächlich. Ein anderer Roman beginnt mit der stolzen Feststellung, dass seit drei Monaten kein Tropfen Alkohol über seine Lippen geflossen ist. Doch dann verstrickt und verbiegt er sich erneut in einen Fall, kämpft mit einem Phantom und gleichzeitig gegen seine alten Gespenster, nachdem er verzweifelt zur Flasche gegriffen hat.
Keine Angst, die Handlungsstränge sind übersichtlich gegliedert, wenn auch nicht immer einsichtig für die Leser, was sich aber schnell ändert. Die Erzählstrukturen treten deutlich hervor und die facettenreichen Stimmungsbilder – ein Lob den Übersetzern - lindern die zuweilen von der Spannung strapazierten Nerven.
Wenn Sie zur Larve, Holes jüngstem Fall greifen wollen, dann sollten Sie mit den beiden zuvor erschienenen Romanen Schneemann und Leopard beginnen. Diese drei Krimis gehören zusammen – weniger bezogen auf die Verbrechen, die Hole aufklären muss, sondern auf sein persönliches soziales Umfeld.
Es geht um Holes große und unerfüllte Liebe Rakel. Für ihren Sohn Oleg hat der Kommissar väterliche Gefühle entdeckt und ist fest entschlossen, künftig Verantwortung für ihn zu übernehmen. Doch Holes Alkoholsucht und sein gefährliches Leben, das sowohl Rakel also auch Oleg gefährden, lässt ihn zur Einsicht kommen, dass er die Menschen, die er liebt und die ihn lieben mit ins Verderben reißt. Vor diesem Hintergrund jagt er einen Serienmörder (Schneemann), einen bestialischen Killer (Leopard) und einen mörderischen Drogenboss (Larve).
Jo Nesbø
Die LarveUllstein 2012
Der Schneemann endet in einem Dialog mit seiner großen Liebe Rakel. Er kündigt an, Norwegen zu verlassen. Rakel fragt:
Wann kommst Du zurück? Nie, sagte Harry. Ich komme nie mehr zurück.
Der Leopard beginnt mit der Suche nach Harry Hole in Hong kong. Eine norwegische Polizistin erhält den Auftrag, ihn zurück nach Oslo zu bringen, damit er ein Verbrechen aufklärt. Nur er, Harry Hole, sei dazu in der Lage. Und wieder endet der Roman in Hong kong. Im Epilog erhält Harry Hole zwei Briefe, einen von der Osloer Polizei und den anderen von Oleg, dem Sohn Rakels.
Harry hatte beide Briefe in seine Jackentasche gesteckt, ohne einen Entschluss gefasst zu haben, ob und wann er sie lesen wollte.
Hier also öffnet sich bereits der Vorhang für den folgenden Roman, die Larve. Oleg, mittlerweile zu einem jungen Mann herangewachsen, sitzt im Gefängnis. Die Anklage lautet: Mord. Harry Hole macht sich auf den Weg. In Oslo recherchiert er in der schmutzigen und zerstörerischen Drogenszene. Zunächst feinfühlig und leise, später immer lauter und schriller schildert Nesbø das Milieu, in dem sich der lange abwesende ehemalige Osloer Kommissar orientieren muss. Verschiedene Erzählstränge werden angelegt, die noch nicht zusammenpassen, aber allmählich zusammenwachsen. Da ist ein Killer auf jemanden angesetzt – auf Harry Hole? Da fiebert in einem rauschhaften Bildersturm ein junger Mann in seinen letzten Lebensminuten die Etappen durch, die ihn in diese ausweglose Situation gebracht haben. Und so ganz nebenbei sucht eine Ratte verzweifelt den Zugang zu ihren Jungen, der versperrt wird durch den Leib des am Boden liegenden jungen Mannes. Hat das etwas mit der Geschichte zu tun? Immer wieder folgt man den Wegen des Killers, ohne dessen Auftrag zu verstehen. Dann wehrt sich Oleg dagegen, von Hole im Gefängnis besucht zu werden. Doch dem gelingt der Zutritt. Er blickt in ein verschlossenes und verbittertes Gesicht. Kurz nachdem er das Gefängnis verlassen hat, klingeln in ihm die Alarmglocken. Er hastet zurück, gelangt zur Zelle Olegs und muss mit ansehen, wie ein Gefängnisinsasse dabei ist, Oleg umzubringen.
Anders als in den Romanen zuvor, sind die Spannungsbögen schon sehr früh angelegt. Und sie reißen nicht ab. Bald glaubt man sich in einem Gestrüpp von undurchsichtigen und teilweise auch widersprechenden Handlungssträngen verfangen zu haben. Doch allmählich lichtet sich das Szenarium. Seite um Seite versteht man endlich, um was es geht und wundert sich nur über die vielen, vielen restlichen Seiten, obwohl doch der Fall fast schon gelöst ist. Ist er auch. Doch dann kommt es zur Spannungsexplosion. Der Fall ist nicht gelöst, und Harry wird von der Drogenmafia und von der Polizei gejagt. Es folgt ein Showdown, das man so schnell nicht vergessen wird. Das Ende ist schrecklich, und damit auch die letzte Seite gelesen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen