Freitag, 22. Januar 2016

Ein maritimer 1. Advent auf Lebenszeit





Erster Advent, abends 19.00 Uhr. Die Sonne gleitet rasch in das ferne Wellengekräusel der Straße von Malacca. Plötzliche Dunkelheit, wie so üblich in den Tropen. Luftfeuchtigkeit bei 98%. 320 und leichter Seegang. Die "Frisco Express" dümpelt auf Reede vor der Lichterkette von Singapur. Morgen früh gegen 4.30 Uhr geht es an die Pier des Containerhafens. 6 Uhr auslaufen!
 
Ich hocke vor der kleinen roten Kerze im hochstiligen Glas und zünde den Docht an. Dann lösche ich das grelle Licht meiner Stewarts-Suite. Wieder einmal Advent, denke ich. Und wieder einmal auf dem Schiff. Ich lehne mich zurück. Der Teleskopsessel kippt geräuschlos ein wenig nach hinten. Dann starre ich in die Flamme, die elegant, einer rätselhaften Choreographie folgend, um den Docht schwingt.
 
Sind es 20, 25 Jahre her? Ich zähle sie nicht mehr, die Jahre. Sie sind mir so gleichgültig wie die Jahresringe eines gefällten Baums. Es kommt auf den 1. Advent an. Auf diesen Tag lebe ich hin, um mein Leben zusammenzuhalten. Und es muss das Meer sein, die schwankende Weite draußen unter dem Himmel und die wiegende Ruhe drinnen in der Kabine, die mich in der Balance hält. Dann stellt sich Zufriedenheit ein. Glück? Ist das höher einzuschätzen als die wonnige Ruhe, die einen durchflutet auf der Schattenlinie zwischen einem pinkfarbenen Geigenhimmel und dem Morast von Sorgen und Angst?

Ach, Freunde der Nacht, ich erzähle Euch meine Geschichte, die mich zum Abonnenten auf Lebenszeit des maritimen 1. Advents gemacht hat. Und das hatte tatsächlich etwas mit Glück zu tun. 

Ich war damals 17 Jahre alt und Gymnasiast. 17 Jahre, ein janusköpfiges Alter, das mit einer guten und einer schlechten Visage ausgestattet ist. Die gute Seite: Ich bin nicht mehr 16 Jahre alt, und die schlechte: leider noch nicht 18. "In between" nennt man das, zwischen den Fronten, nicht Fisch nicht Fleisch, oder was weiß ich. Man will, aber man kann nicht. Wenn man eine jüngere Freundin hat, und man muss ja eine haben, um von der sozialen Peripherie überhaupt wahrgenommen zu werden, dann will man und sie kann nicht. Und bei einem gleichaltrigen Mädel: Sie will und man selbst kann nicht. Das schlägt sich dramatisch auf die Schulnoten nieder, die bei mir eher Regionalliga-Charakter hatten. Championsleague? Unerreichbar
 
Nein, ich bin kein Pessimist. Ganz im Gegenteil. Um meinem Alter gerecht zu werden, muss ich sagen, dass mit 17 endlich das eingetroffen ist, was ich mit 15 Jahren still herbeigesehnt und mit 16 Jahren bei den Eltern vergeblich eingefordert hatte: Tanzstundenunterricht.  Jetzt endlich mit 17 Jahren durfte ich das renommierte Unternehmen Bahnsen am Feenteich im noblen Hamburger Bellevue-Viertel, wie ich es einmal nennen möchte, betreten, um die hohe Schule des Tanzens und, damit verbunden, erlesener gesellschaftlicher Umgangsformen, zu erlernen. Da sein Villen-Anwesen mit einem gepflegten Rasen an das weite Teichufer grenzte - ein Bootssteg war ebenfalls vorhanden -  veranstaltete er im Anschluss an den sonntäglichen Tanztee, sommerliche Lampionfahrten in eigens angemieteten Kähnen. Meine Tanzstunden fielen in die Wintersaison. So what! Und um ganz ehrlich zu sein: Bahnsen, Bellevue und Umgangsformen, sowie der vorweihnachtliche Abschlussball im Weltklasse Hotel Atlantik an der Außenalster waren mir schlicht schnurz. Es ging einzig um das eine: Mädchen! Und damit kommen wir gleich zum Problem. Ich will nicht von einem Wermutstropfen sprechen, sondern eher von einer Mount-Everest-Hürde: Die Mädels waren so alt wie wir, 17 Jahre. Da kommt man sich wie ein kleines Bübchen vor, und das ließen sie, die verfluchten Dinger, uns spüren. Das aus einem einfachen Grund. Es gab so drei, vier Beaux, die zählten lockere 19 Jahre. Waren wohl zwei, drei Mal sitzen geblieben, hatten zuvor wegen Pickel und Mundgeruch keine Chance bei Frauen und versuchten nun, die unterrangigen Pennäler auszustechen. Verzerrten Wettbewerb! Das ist strafbar!

Ich bin zwar kein Held und von Rock Hudson weit entfernt, aber mich zeichnet eine Kämpfernatur aus - und Mutterwitz. Es galt bei Bahnsen eine Regel, dass derjenige die Dame nach Hause begleiten musste, der zuletzt mit ihr getanzt hat. Das war meine Chance, und ich konnte bereits am 2. Unterrichtsabend Hedi, nach der mindestens zwei der Beaux lüstern gegiert hatten, den Arm reichen. Und Tschüß!

Wir standen draußen auf der fahl erleuchteten Straße, und mit Vergnügen hörte ich, dass Hedi im Hofweg, nahe der Höltystraße wohnte.

"Das ist ganz in meiner Nähe!"

"Ach!"

Stille, die ich genoss, denn nun zeichnete sich vielleicht regelmäßiges Nachhausebringen ab, da man ja praktisch Wange an Wange wohnt. Wange an Wange: Welch' süße Übertreibung.

"Sagen Sie, ich hörte mehrmals ihren Namen. Ist Hedi, die Abkürzung von Heidemarie?"

"Das wäre dann ja wohl Heidi. Und so möchte ich auf gar keinen Fall genannt werden. Erstens heißt eine Freundin von mir so, und zweitens habe ich mit der kleinen Gebirgsnudel aus der Schweiz nun wirklich nichts zu tun."

Das war deutlich, und ich war von ihrer Schlagfertigkeit beeindruckt. Was sollte ich denn jetzt noch sagen? Ich musste doch etwas sagen.  

"Dann vermute ich, dass Ihre Eltern Sie auf den Namen Hedwig getauft haben."

Au weia! Knapp daneben ist auch vorbei. Sie wandte mir kurz ihr Gesicht zu und blitzte mich an.

"Wenn Sie es auch nur einmal wagen sollten, mich Hedwig zu nennen, dann, dann ..."

Ich zuckte zusammen. Aber dann stieg der Ärger in mir hoch, und ich machte ihm unverzüglich Luft.

"Dieses verdammte Benimm-Dich-richtig-Spiel bei Bahnsen ist für den Sack!" Pause. "Irgend etwas muss ich doch quatschen, verdammt noch mal. Ob Hedi, Heidi oder Hedwig ist mir doch völlig egal."

Ich blieb stehen und holte Luft. Erstaunt sah sie mich an.

"Und außerdem", fuhr ich fort, "ich freue mich, ich meine, ich finde das einfach toll, also, um ehrlich zu sein, ich habe Schmetterlinge im Bauch, weil ich Sie ... Sie mit dem schönen blonden Haar und den Locken... und immer, wenn Sie sprechen, dann runzelt sich so süß Ihre Nase ... und ich darf Sie nach Hause bringen, und nun ... nun marschieren wir hier lang."
 
Sie blieb stehen, grinste und blickte mir in die Augen.
 
"Momentan stehen wir hier herum." Dann griff sie nach meinem Arm, hakte sich unter und: "Nenn mich Hedi. OK? Und den Blödsinn mit dem Sietzen schenken wir uns." Und nach einer kurzen Pause: "Wie heißt Du?"

"Michael". Kannst Mike zu mir sagen!" Kam es rau aus mir heraus. 

"Dann nenne ich Dich "Mike-Mike".

"Warum das denn?"

"Weil du mehr bist als ein Mike. Du bist ein Mike-Mike!"

Jetzt war ich auf Wolke Sieben und dachte: Endlich angekommen. Endlich.

Tatsächlich brachte ich Hedi die nächsten Bahnsen-Tanz-Abende nach Hause. Wir hatten während der letzten Tanzphasen eine schlaue Strategie entwickelt mit kurzfristigen Toilettengängen und ähnlichen Tricks, so dass wir immer den letzten Tanz bestreiten konnten. Einmal hatte es nicht geklappt. Da war der Beau schneller, sicherlich nicht schlauer. Nun denn, dachte ich. Dann heute Abend eben nicht. Doch da hatte ich mich getäuscht. Nach dem Verklingen der Musik und der artigen und vorfreude-sinnigen Verbeugung des Herrn, schlüpfte sie zu mir herüber und quittierte den Protest ihres Tanzpartners mit einem zischenden "Vergiss es!" 

Ich war stolz auf meine Hedi. Dann aber geschah das Ungeheuerliche. Wir näherten uns der Adventszeit, und der Tanz-König Bahnsen verkündete froh, dass wir nunmehr im Stande sein sollten, einen früh-abendlichen Tanztee am 1. Advent in seinen Räumen bestreiten zu können. Alle seien herzlich eingeladen. Auf dem Nachhauseweg wollte sich Hedi mit mir auf den Sonntag-Nachmittag verabreden, doch ich meinte, vielleicht sollten wir lieber am Jungfernstieg entlang rödeln, und in einer Teestube ein wenig quatschen - und ein wenig Händchen halten. Letzteres sagte ich aber nicht.

"Dir würde es auch gut tun, die eine oder andere Tanzsequenz zu verfeinern. Foxtrott ist ja mit Dir leidlich, doch vom Cha Cha Cha bist du noch weit entfernt, ganz zu schweigen vom Tango."

"Was soll das denn. Ich dachte, ich meine, Du bist mir am wichtigsten, und dann kommt das Tanzen. Werde mir das nächste Mal Mühe geben."

"Genau. Und das ist am Sonntag!"

"Verdammt, nein. Am nächsten Freitag zur offiziellen Tanzstunde!"

"Ignorant!"

"Meinetwegen, meinetwegen, meinetwegen! Am Sonntag, wenn's sein muss."

"Muss ja nicht."
 
Wir waren also locker verabredet. Sie würde mich gegebenenfalls noch einmal anrufen, ansonsten bliebe es beim Sonntag Nachmittag um kurz vor 17.00 Uhr am Hofweg vor dem Blumenladen ihrer Eltern.

Wir waren leider zu locker verabredet, denn am Sonntag-Nachmittag rief sie mich an und erklärte mir knapp, dass ich von der adventlichen Tanz-Fron erlöst sei. Sie hätte sich partnermäßig anderweitig entschieden. Meine vor Enttäuschung zitternde Stimme versagte ihren Dienst. Ich legte auf. Dann stand ich regungslos im Wohnzimmer. Mein Vater schaute kurz von der Zeitung auf, fixierte mich, und vertiefte sich dann wieder in seine Lektüre. Ich eilte in mein Zimmer und wusste nicht, was ich machen sollte. Meine Mutter schaute vorbei und flötete "doch keine Advents-Teetanzstunde?" Ich schüttelte stumm den Kopf und setzte mich auf das Bett. Ich weiß nicht, wie lange ich halb betäubt verharrte. Irgendwann, die Dämmerung ging bereits in Dunkelheit über, stand ich langsam auf, griff zur Jeans und zum Rollkragenpulli, stopfte mir die Wollhandschuhe in die Seitentaschen, setzte die Pudelmütze auf und verließ wortlos die Wohnung. Unten schwang ich mich auf das Fahrrad und düste los. 

Als ich gerade den Hofweg passierte, erblickte ich sie unter der Straßenlaterne. Lachend drehte sie sich um und schaute mich an. Blickkontakt für Sekundenbruchteile. Dann war ich auf der anderen Straßenseite. Ich hatte alles erfasst. Einer der pickelhäutigen Mundgeruch-Beaux hatte den Arm um sie gelegt. Aha! Nun war ich also doch der Leo.

Ich trat in die Pedale und näherte mich mit knapper Schallgeschwindigkeit der Sierichstraße, der verkehrsreichen Vorfahrtstraße. Augen zu und durch! Ist egal! Aber dann trat ich in die Bremsen, dass sämtliche Füchse, Igel, Katzen und Hunde das Weite suchten. Nun wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich, der Leo? Keineswegs, denn ich bin eine Kämpfernatur der besonderen Klasse.

Zu Hause suchte ich mir eine schöne rote Adventskerze, ein hochstieliges Glas und lange Zündhölzer zusammen. Dann schnappte ich mir meinen Friesennerz und zog die Gummistiefel an. Hoffentlich ist der alte Martens noch im Bootshaus, dachte ich, während ich mit dem Fahrrad auf die Außenalster zuhielt. Im Schwanenwik wirst du es wissen, dann siehst du die Lichter im Bootshaus - oder auch nicht. Ich sah die Lichter und atmete auf. Der alte Martens hatte einen Bootsverleih, und ich half ihm oft in schwierigen Fällen, etwa bei einer steifen Herbstbrise nach gekenterten Segelbooten Ausschau zu halten. Diese Arbeit erledigte ich perfekt, denn so schnell wie ich war niemand anderes im Schlauchboot und wenige Minuten später beim Havaristen. Dass häufig die eine oder andere Schulstunde daran glauben musste ... Wen kümmerte es? Eine ganze Menge Leute, mich aber am allerwenigsten. Also: Ich hatte beim Martens einen mächtigen Stein im Brett. Den galt es jetzt einzulösen.

"Hallo Martens! Ich benötige ein Segelboot, einen kleinen Piraten!"

Atemlos stand ich im Bootshaus und schaute auf die fröhliche Skatrunde. Martens blickte auf und schwieg. Ein Skatkumpel kam mit einem "wat'n dat für'n Döspaddel?" rüber. Martens winkte ab. Er kennt mich, und er ist ein Mann der wenigen Worte. Er nickte nach links und ich verschwand. 

Die Persenning war schnell vom Boot gebracht und der Mast aufgerichtet. Leinen los! Ich schwang mich ins Boot, verstaute meine Utensilien im Bugsprit und hisste das Großsegel, auf die Fock verzichtete ich. Dann schaltete ich die Positionslichter an. Eine schwache Brise trieb mich Richtung Rabenstraße. Bloß weg vom seichten Schwanenwik-Ufer! Dann ein Schlag nach Steuerbord, der Baum schlug um, ich duckte mich, und das Segel füllte sich. Ich hielt auf das schwarze Loch in der Lichterkette der "Schönen Aussicht" zu, die Feenteichbrücke. Wie sieht es mit dem Wasserstand aus? Nordwind und 18 Uhr. Das dürfte für eine Brückenpassage mit dem Mast eines Piraten reichen. Nach 20 Uhr, wenn der Wasserstand gestiegen ist, bist du wieder draußen.

Ich glitt in den Feenteich, schaltete die Positionslichter aus und sah die hell erleuchtete Veranda des Bahnsenschen Anwesens. Da tanzen sie, da turteln sie, dachte ich, griff unter das Bugsprit, holte die Kerze und das Glas hervor und positionierte beides auf der Bugplatte. Langsam driftete der Pirat auf den Tanzpalast zu. Ich reffte das Segel, ergriff das Ruder und brachte den Pirat zum Halt - nur noch etwa 10 Meter entfernt vom Bootssteg. Ich konnte die tanzenden Paare ausmachen, die irrlichternd, hinter den hohen Glasscheiben hin- und herwogten. Glaubte sogar die Musik zu hören. Cha Cha Cha - Foxtrott? Einerlei. Dann zündete ich die rote Adventskerze im hochstieligen Glas an. Die Flamme leuchtete auf und ich starrte gebannt auf die Glasfront der Veranda. Nach einigen Augenblicken bemerkte ich ein Zögern im rhythmischen Schwung der vorbeirauschenden Tanzpaare. Dann kam es zu Stockungen, Stauungen, Stillstand. Alle, oder fast alle der Bahnsenschen Versammlung standen an den Fenstern und schauten zu mir herüber. Ich konnte es kaum glauben.

Und dann ereignete sich das Wunder: Es öffnete sich in der Menge der Tanzgesellschaft eine Gasse. Sie, Hedi, schritt, wenn auch ein wenig zögerlich, hervor. Ich erkannte sie sofort. Ihre blonden Haare glänzten im Licht. In den Händen hielt sie eine Kerze und stellte sie vor sich auf die Fensterbank. Sie blieb stehen und schaute in meine Richtung. 

Nach und nach verschwanden die Tanzpaare. Hedi blieb. Ich glaubte fast, sie sah mir in die Augen .... Nach einer Weile zog ich das Segel auf und schaltete die Positionslichter ein. Ein weiter Schlag backbords brachte mich auf Kurs der Brücke. Nach achtern heraus verkleinerte sich die hell erleuchtete Veranda. Sie stand immer noch da und vor ihr die Kerze.

"Na, da steht ja unser nächtlicher Seemann und strahlt wie ein Honigkuchenpferd." Ein Skatbruder klopfte Martens auf die Schulter. Der zwinkerte mir zu und ... und dann brachte er tatsächlich zwei Worte heraus

"Mission erfüllt!"

Am nächsten Tag, ich kam gerade aus der Schule, wedelte meine Mutter einen feuerroten Brief vor meinem Gesicht und lachte.

"Wenn das nicht Liebe ist!"
 
Mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich entriss ihr den Umschlag, öffnete ihn und entfaltete den Bogen. Als erstes sah ich die Adventskerze, dann ein Herz und darunter, ganz klein: "Ich liebe dich! Hedi"

Wir verbrachten einen Sommer, wie soll ich sagen, einen Sommer ... Dafür gibt es keine Worte. Doch, zwei Worte: Pures Glück. Hedi hatte gerade ihre Lehre als Floristin abgeschlossen, und ich bewegte mich auf das Abitur zu. 

"Mit gewissen Anstrengungen werde ich wohl doch noch den Aufstieg aus der Regionalliga schaffen".

"Du bist mein Champion!"

Wir segelten, nein schossen in einer H-Jolle über die Alster immer hart am Wind. Manchmal leistete Hedi mir Gesellschaft bei meinem Wachtgang am Bootssteg. Gegen Abend flaute der Wind ab, die Alster glättete sich und die vielen weißen Segel träumten vor sich hin. Wir ließen die Beine ins Wasser baumeln. Sie schmiegte sich an mich.

 "Weißt Du, wir beide gehören zusammen!"

Ich nickte.

"Wir bleiben zusammen!"

Ich legte den Arm um sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

"Wollen wir uns verloben?"

Ich schaute sie erstaunt an. Nachdenklich nickte ich.

"Ich weiß, woran Du jetzt denkst!" Und nach einer Pause. "Wir beide wissen, wann und wo."

Am 1. Advent betraten wir gegen 18 Uhr das Bootshaus. Unsere Gesichter glühten. Martens blickte auf. Die Skatbrüder schauten uns an. Keiner sagte ein Wort, bis auf Martens.

"Fast wie vor einem Jahr." 

Die hell erleuchtete Veranda von Bahnsens Palazzo bot uns das Schauspiel tobender Tanzpaare. Ich reffte das Großsegel, brachte das Glas mit der roten Kerze in Position und zündete den Docht an. Dann holte ich zwei Sektgläser heraus. Hedi arbeitete am Mumm Extra Dry. Mit einem verhaltenem Plopp zischte der Korken in das schwarze Nass des Feenteichs. Wir stießen an, tranken und gaben uns einen Kuss. Lange saßen wir auf dem Schwertkasten - wortlos.

"Verlobung ohne Worte und Ringe, aber mit Adventskerze im Feenteich!"

"Das wird halten."

Es hielt nicht einmal zwanzig Minuten. Wir plauderten und plauderten, malten uns eine rosige Zukunft aus und zählten die Kinder, die schon auf uns warteten. Und immer wieder: Prost auf unsere Zukunft! Wie das eben so ist. Der Wind frischte auf und ich hisste das Segel. Wir drifteten auf die Brücke zu.

"Verdammt, der Wasserstand!"

Aber da war es schon zu spät. Die oberste Mastspitze schlug an die Brückenwölbung, der Baum schlug um, und ich wollte noch rufen "Hedi! Runter!" Da gab es einen dumpfen Schlag und gleich darauf das grausame und untrügliche Geräusch, wenn etwas ins Wasser klatscht. Ich blickte mich um. Hedi war verschwunden. 

Zuerst war ich wie gelähmt, doch dann riss ich mir Jacke und Pullover vom Leib, streifte die Gummistiefel ab und hechtete ins Wasser. Nach einigen ergebnislosen Tauchgängen schwamm ich erschöpft zurück zum Boot.

Die folgenden Tage waren die Hölle. Hedi blieb verschwunden. Man fand sie, beziehungsweise ihre Leiche nicht. Von der Schule wurde ich freigestellt. Das Abitur sollte ich um ein Jahr verschieben. Schließlich zeigten mich Hedis Eltern wegen fahrlässiger Tötung an. Auf einen Rechtsbeistand verzichtete ich, doch meine Eltern aktivierten einen Anwalt. Eines morgens, nach einem Mix aus Schlafen und Wachen, fand ich mein Kopfkissen voller Haare. Erschrocken griff ich zum Kopf. In meiner Hand ein Haarbüschel. So what!

Mein Anwalt stritt heftig mit dem Anwalt der Gegenpartei. Tragischer Unglücksfall usw. Mein Schlusswort aber war eindeutig. Ich fühlte mich im Sinne der Anklage für schuldig, und ich fühlte mich auch schuldig für mein allmähliches Sterben. Bei diesen Worten strich ich mir gedankenverloren über den haarlosen Kopf. Das sollte gar nicht pathetisch sein. War es aber, ohne dass ich es wahrnahm. Ich konnte mit der Situation nicht umgehen. Mir ging immer nur eines durch den Kopf: Hedi. Und die gab es nicht mehr. Ich bemerkte nicht einmal die Stille, die den Gerichtssaal ausfüllte. Plötzlich stand Hedis Mutter vor mir. Sie hatte Tränen in den Augen und umarmte mich. Dann wandte sie sich dem Richter zu und sagte, dass sie die Anklage, wenn es doch nur möglich sein könnte, zurücknehmen würde.

Wochen später verabschiedete ich mich von meinen Eltern. Ich sollte sie nie mehr wieder sehen. Ich hatte als Messejunge auf der MS Hamburg angeheuert. Viele Monate kreuzte ich in ostasiatischen Gewässern. In Yokohama musterte ich ab und heuerte auf einem japanischen Trawler an, der mich nach San Francisco brachte. Mittlerweile hatte ich es zum Messestewart gebracht und konnte bald darauf meinen Dienst als Decksstewart auf dem Passagierdampfer California antreten. Die California versah den Shuttle-Service zwischen San Francisco, Los Angeles und Auckland, Neu Seeland. Landgänge waren bis auf ein, zwei Stunden kaum möglich. Das hatte den Vorteil, keine Dollar ausgeben zu können. Nach vier Jahren, ich durfte mich nunmehr Kapitäns-Stewart nennen und besaß bereits die amerikanische Staatsbürgerschaft, war ich reich. Im bezaubernden John-Steinbeck-Städtchen Carmel an der kalifornischen Küste, kaufte ich einen Schuppen, den ich zu einem veritablen Restaurant ausbaute. Bald war das "Mike-Mike" hoch geschätzt, und nachdem der Filmstar Clint Eastwood, damals Bürgermeister von Carmel, es zu seinem Lieblingsrestaurant erklärt hatte, machte ich zusätzlich eine Strandbar auf. Ich hatte ausgesorgt. 

Von Mitte Dezember bis Mitte Januar waren die Bar und das Restaurant geschlossen - zur Freude meiner Konkurrenz. Dann heuerte ich auf irgendeinem Kahn an - egal in welcher Position, ob als Stewart oder Aufwäscher, das spielte keine Rolle. Irgendwo auf den Weltmeeren, ob in stürmischer See im Südatlantik oder im Tropenrausch Polynesiens, wartete ich auf den Sonntag, Sonntag, den Ersten Advent, den einzigen Sonntag-Abend in meinem Leben.

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