Freitag, 22. Januar 2016

Im Meer der Flammen


 
 
Anthony Doerr
Alles Licht das wir nicht sehen
Beck 2015
 
Versteht sich der Titel Alles Licht das wir nicht sehen (All the Light We cannot See) als Rätsel oder als eine Art Versprechen? Wenn wir sehen, sehen wir Licht und nichts anderes. Unser komplizierter Augen-Hirn-Mechanismus dechiffriert in Blitzesschnelle die Impulse und setzt sie zu einem Bild, zu vielen Bildern, zu einer Myriade von Bildern  zusammen. Das ist so selbstverständlich, das wir stutzen müssen: Gibt es Licht, das wir nicht sehen? Natürlich,  wenn wir die Augen geschlossen haben, also einfach kein Licht auf die Netzhaut trifft. Das Licht ist dann außen vor. Und wenn die Netzhaut nicht in der Lage ist, Licht aufzunehmen, kann es dann Licht geben, das wir nicht sehen? Oh ja, das gibt es und zwar bei erblindeten Menschen, die hauptsächlich über ihre intakten Gehör-, Geruchs- oder Geschmackssinne Bilder und damit Licht generieren können.
Der Titel des amerikanischen Autors Anthony Doerrs deutet weder den Plot noch das Hauptmotiv seines Romans an, sondern kann als eine Art Grundmodul verstanden werden, vielleicht besser noch als eine metaphorische Gelenkstelle, mit der die unterschiedlichen Erzählstränge verknüpft sind, die immer wieder zur Aussage des Titels führen, um sich anschließend im engmaschigen Erzählmuster zu verzweigen. Kurz gesagt, das Licht des Blinden hilft, sich  in einer Welt, die in Stücke zerfällt, zu orientieren. Die Handlung spielt während des Zweiten Weltkriegs.
In Saint-Malo, im äußersten Westen Europas, durchlebt Marie-Laure, ein junges blindes Mädchen, die Besetzung ihres Landes und die Bombardierung der Stadt, in die sie mit ihrem Vater aus Paris geflohen ist. Gleichzeitig marschiert Werner, ein blutjunger Funk-Spezialist  mit einer kleinen Einheit ostwärts in die Weiten Russlands, um Partisanen aufzustöbern. Zwischen Saint-Malo und Werners Kampfzonen im Osten der Ukraine liegen gigantische Ländermassen, eben diejenigen, die Hitler erobern will.
Die dramatischen Ereignisse in Paris und dann hauptsächlich in Saint-Malo wechseln ab mit der Geschichte Werners, der, erschüttert angesichts der Grausamkeiten der deutschen Soldateska, seiner Pflicht nachkommen muss. Er trägt keine Waffen und nutzt sein Auge nicht, um den Feind auszumachen. Seine Waffe ist der Peilsender, besser noch sein Ohr. 
Was aber haben diese beiden Erzählstränge gemeinsam? Bewegen sie sich aufeinander zu? Wird Werner, der deutsche Soldat der  französischen Marie-Laure gegenüberstehen? Und wenn ja, aus welchem Grunde und mit welchem Ziel? 
Leider verrät das unselige Verlags-Marketing im Klappentext, worum es in diesem Buch geht, und zwar derart dumm-reißerisch, dass die Inhaltsskizze erstens am Inhalt vorbeigeht (besser: vorbeimarschiert) und zweitens dem Leser die Möglichkeit raubt, sich auf den Fortgang der Geschichten einzulassen, um ganz allmählich ein erstes Ahnen reifen zu lassen. Denn schon bald nach dem Beginn der Werner-Geschichte erfährt der Leser Hinweise, die sich später zu einem Saint-Malo-Bezug verdichten. Und auch das Verhalten von Marie-Laure lässt vermuten, dass hier zu einer Zeit des alltäglichen Sterbens ein Hauch von Seelen-Verwandtschaft heranwächst, um die weder die Französin noch der Deutsche wissen können.
Das ist die große Kunst von Anthony Doerr, einen Roman auch zwischen den Zeilen aufleben zu lassen und den Leser in die Geschehnisse hineinzuverweben. Der Schrecken des Krieges, erlebt aus der Perspektive eines blinden Mädchens und zugleich eines jungen deutschen Soldaten, verstärkt sich zum fühlbaren Grauen, das unter die Haut geht. Hoffnung, Verzweiflung und Todesangst sind dann keine bloßen Worte mehr – sie werden spürbar.
Das Muster der beiden Haupterzählstränge setzt sich zusammen aus verschiedenen Episoden und Motiven, die immer wieder in unterschiedlichen Varianten auftauchen. Nach und nach erfährt der Leser von den Verknüpfungen der Episoden – etwa, was der magische Diamant Meer der Flammen mit dem genialen Saint-Malo-Stadtmodell Marie-Laures Vaters zu tun hat, der, von den Nazis verschleppt, immer wieder Briefe an seine Tochter schreibt, die sie sich von ihrem Onkel vorlesen lässt. Also auch die Briefe haben etwas mit dem Stadtmodell zu tun. Der dem Tode geweihte deutsche Stabsfeldwebel von Rumpel jagt diesem Diamanten nach, um ihn mit großer Geste dem Führer höchstpersönlich darbieten zu können. Marie-Laures Jules-Verne-Lektüre – mit Begeisterung liest sie in Blindenschrift Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer – schlägt einen nicht unbedingt sofort erkennbaren Bogen zu Werners fast aussichtslosem Kampf, sich aus dem Keller eines bombardierten Gebäudes zu befreien. Und immer wieder taucht der Diamant auf. Ist er mit einem Fluch beladen? Schon als Junge bastelt Werner an Rundfunkgeräten, um deren Leistung zu optimieren. Das ist dann auch der Beginn seiner militärischen Laufbahn als Funker. Schließlich zieht er durch die verwüsteten Landstriche Russlands, vorbei an zerstörten Bauernhöfen und grausam entstellten Leichen am Wegesrand. Er wird Zeuge der Kreuzigung Russlands.
Werner nähert sich Saint-Malo. Der Onkel Marie-Laures führt eine geheime Funkstation in der Stadt, die wichtige Daten gegen Ende des Krieges im Sommer 1944 an die Engländer übermittelt. Davon wissen die deutschen Besatzer, doch sind sie nicht in der Lage, den Sender ausfindig zu machen. Es wird nach einem Spezialisten gefahndet. Die Wahl fällt auf Werner, den man an die Westfront abkommandiert.  
Der souveräne Wechsel der Schauplätze und die ereignisreichen Episoden in Saint-Malo und in den verwüsteten Weiten Russlands erzeugen oft unerwartete Spannungsbögen. Doerrs bilderreiche Sprache und das einfühlsame Schildern der Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen Marie-Laures ist zuweilen so niederschmetternd, dass man zusammen mit ihr weinen möchte. Im Fortgang der Geschichte scheinen die Personen aus den Seiten zu treten, so als ob sie uns von Angesicht zu Angesicht ihr Schicksal persönlich entfalten wollten. 
Leider zerfasern sich die Schlusskapitel in mehr oder weniger beiläufigen Kommentaren zu den Nachkriegs-Lebenswegen zu vieler Nebenpersonen, die einen angesichts des überwältigenden Schicksalspanoramas von  Marie-Laure und Werner nur noch wenig zu sagen haben.


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