Mittwoch, 27. Januar 2016

Das Sternenkind



"Ich habe einen Wunsch." Adrian legt Messer und Gabel beiseite und schaut seine Eltern erwartungsvoll an. Hildegard, die gerade die Tasse Tee zum Mund geführt hat, bricht die Aktion jäh ab. Ungläubig blickt sie zu Norbert hinüber. Der schmunzelt. 

"Einen Wunsch? Habe ich richtig gehört?"
 
"Ja Vater."

Die ausgesprochen höflich Art des 12-jährigen war schon eine Selbstverständlichkeit. Doch die Äußerung eines Wunsches? Das war wirklich ungewöhnlich. Ob Geburtstag oder Weihnachten, ob Ferienbeginn oder gute Zeugnisnoten, die ohnehin obligatorisch waren, einen Wunsch hat Adrian bislang nicht geäußert. 
 
"Ist ja toll", entgegnet die Mutter mit ungläubiger Miene. "Schieß los. Was ist es denn?"
 

"Ein Schrank", antwortet Adrian. "Ich benötige einen Schrank für mein Zimmer."



 "Aber dein Wandschrank mit den Regalen und Schubladen ..., reicht der nicht mehr aus?"

 "Das ist es nicht", erwidert Adrian. "Nun, wie soll ich sagen", fährt er zögernd fort, "ich benötige eben einen Schrank, einen mit einer großen Tür und ...". Er zögert. "Eben ein Schrank. Ich weiß schon was ich will."

 Adrians Mutter legt sanft ihre Hand auf seinen Arm. Ein Wunsch, sein erster Wunsch. Der soll in Erfüllung gehen.

 "Wenn Du wirklich einen weiteren Schrank brauchst, dann sollst Du ihn auch bekommen. Du wirst schon wissen, wofür er nützlich sein soll."

"Gewiss, Mutter. Das weiß ich. Ich habe mir auch schon einen ausgesucht. Drüben in der Herrengasse, beim Antiquar Schätzle, steht ein alter hoher Schrank ..."

"... mit einer mächtigen Tür und viel Raum!" Der Vater lacht und muss sich sogleich einen vorwurfsvollen Blick von seiner Frau gefallen lassen. 

 "Norbert", kommt es mit gedämpfter Stimme von ihr, "nun lass schon! Das mit dem Schrank geht in Ordnung."

 "Passt denn", fährt der Vater unbeirrt fort und fixiert seinen Sohn, "so ein Schrank überhaupt in dein Zimmer?"

"Ich habe alles ausgemessen. Das passt!" gibt Adrian kurz zurück.

Stille.

Für Adrian scheint dieses für die Eltern bedeutungsvolle, zumindest aber überraschende Abendbrot-Intermezzo abgeschlossen zu sein. Er greift zu Messer und Gabel und macht sich über sein Kalbskotelett her. Dann erzählt er vom Vormittag in der Schule, von seinen Lehrern und dem Direktor, der für den nächsten Monat den Ausfall der Kunst- und Musikstunden angekündigt hat.

"Kunst und Musik fallen ja schon wieder aus. Findest Du das nicht schade?" fragt seine Mutter beiläufig.

"Es zeugt von einer wenig durchdachten Schulpolitik, dass die sogenannten unwichtigen Unterrichtsstunden ausfallen. Viele Mitschüler bedauern das in der Tat, da sie in diesen Stunden Stärke zeigen können, die ihnen in den Hauptfächern abgeht."

Wieder räuspert sich Norbert und blickt von seinem Teller auf.

 "Ja, aber Mutter und ich meinen: Was sagst du denn dazu?"

 "Für mich ist das nicht bedeutsam. Ich verfüge über viele Mußestunden außerhalb der Schule, in denen ich meine Bedürfnisse nach Kunst und Musik befriedigen kann."

 "Du könntest doch aber", wendet die Mutter ein, "dich im Rahmen der Schülermitverantwortung engagieren, damit..." Unvermittelt unterbricht sie Norbert: 

 "Genau, das ist es! Nimm die Sache selbst in die Hand!" Und mit einem Seitenblick auf seine Frau: "Entschuldige bitte..., aber mir fällt gerade ein: Adrian, bist du eigentlich zum Klassensprecher gewählt worden?"

 "Ja. Es gab keine Gegenstimme!" In seiner Stimme schwingt ein Hauch von Gleichgültigkeit mit.

 "Na denn herzlichen Glückwunsch!"

 "Ich habe die Wahl nicht angenommen." 

 "Dachte ich mir schon", kommentiert die Mutter trocken, und Norbert kichert: 

 "Du hast wichtigere Dinge zu tun, wenn ich nicht irre."

Adrian erwidert darauf nichts. Seine Miene ist eindeutig: Bitte keine Erklärungen fordern! Dann schaut er seine Eltern mit den klaren himmelblauen Augen freundlich an und wendet sich wieder seinem Rippchen zu.

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Vor Jahren noch waren Norbert und Hildegard davon überzeugt, dass sie einen Wunderknaben zur Welt gebracht hatten. Mit vier Jahre erhielt er Klavierunterricht. Die Lehrerin war begeistert. In drei Jahren, so die Pädagogin, sei er reif für den Konzertsaal. Doch Adrian weigerte sich, öffentlich aufzutreten. "Ich liebe die Musik, doch das ist meine Sache", war der einzige Kommentar, der ihm abgerungen werden konnte. Dann erhielt er als 8-jähriger Schüler Preise für seine Gedichte. Veröffentlichungen lehnte er strikt ab, obwohl einige bekannte Verlage Interesse angemeldet hatten. Im vergangenen Jahr sprach ein Agent vom Fußball-Bundesligaclub der benachbarten Stadt bei Adrians Eltern vor. Beim Schüler-Turnier sei der "Sohnemann" durch sein stupendes Ballgefühl und seine überraschende Kondition aufgefallen. "Er war der Star des Turniers", so der Agent. 

 "Komm mal runter, du Sportskanone!", rief der Vater. Adrian kam die Treppen heruntergesprungen, begrüßte den Agenten, hörte sich die Vorschläge in Sachen Talentförderung höflich an, schüttelte den Kopf und verfügte sich umgehend in sein Zimmer, da er gerade mit wichtigen Dingen beschäftigt sei, wie er entschuldigend anmerkte. Der Agent schluckte trocken:

 "Was wird hier gespielt? Andere Jungen fallen mir um den Hals."

Norbert zuckte mit den Schultern, doch der Bote vom Fußball-Olymp konnte sich nicht beruhigen. 

"Ihr Sohn, der Wunderknabe, hat das Zeug für einen ganz großen Fußballer! Können Sie nicht, ich meine, der Junge ist 12 Jahre alt, und..." 

Norbert und seine Frau lachten auf. "Sie haben doch gehört", entgegnete Hildegard, "Adrian hat selbst entschieden. Nun lassen Sie es gut sein". Und nach einigem Zögern: "Wissen Sie, Adrian ist kein Wunderknabe. Früher dachten wir das auch. Heute wissen wir: Er ist ein wunderbarer Knabe."

Das Abendessen ist beendet. Adrian, der beim Abräumen des Geschirrs helfen will, setzt sich auf einen Wink seiner Mutter wieder.

 "Bleib nur sitzen! Ich bringe noch die Säfte und für Vater das Bier."

Adrian spürt, dass die Atmosphäre ein wenig angespannt ist. 'Das mit dem Schrank haben sie schon geschluckt', denkt er, 'das mit dem Klassensprecher leider nicht. Nun ja, sie kennen mich. Vielleicht lassen sie mich in Ruhe'.

 Während Hildegard ihrem Sohn fröhlich zuprostet, öffnet Norbert die Bierflasche und schenkt ein. Adrian lächelt. Das glucksende Geräusch gefällt ihm. 

 "Sag' mal Adrian", der Tonfall des Vaters könnte eine Grundsatzfrage ankündigen, "hast du eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, welchen Beruf du ergreifen möchtest?"

 Adrian, der wild entschlossen ist, sich diesem Thema zu entziehen, schaut, um Zeit zu gewinnen, von der Mutter zum Vater und wieder zur Mutter. 'Ich wähle den Schleichweg mit eingebauter Umleitung'. Gelassen, aber mit wichtiger Miene:

 "Ihr werdet wahrscheinlich denken, dass ich mit meinen guten Schulnoten, die zu Recht ein ausgezeichnetes Abiturzeugnis erwarten lassen, alles studieren kann."

 "Davon gehen wir aus, Adrian", meldet sich die Mutter. "Doch was uns interessiert, ist ..." 

 Adrian hebt langsam die Hand und schaut seiner Mutter in die Augen. Sie verstummt. "Entschuldige, liebe Mutter, dass ich dich unterbreche, aber mein Gedanke geht weiter." Er holte tief Luft: "Nach dem Abitur werde ich ein erfolgreiches Studium absolvieren. Erfolg auch im Beruf. Familie möglicherweise ..." Er lacht und fügt versöhnlich hinzu: "Das ist es doch, was sich Eltern von ihren Söhnen wünschen."

Norbert lässt sich nicht beirren. Er hat das Ausweichmanöver erkannt, weiß aber noch nicht, wie er reagieren soll. 'Vielleicht einfach drauf los!' denkt er. "Adrian, du bist ein Top-Schüler und Du weißt auch, dass wir Dich über alles lieben. Nun sag uns doch einfach: Hast du Vorlieben oder Hobbies, aus denen vielleicht einmal eine berufliche Perspektive werden könnte?"

'Ende der Fahnenstange und Rückzug!' Mit ernstem Gesicht schaut Adrian seine Eltern an. Dann lächelt er. "Ich bin jetzt müde. Ich denke, ich gehe schlafen." Und mit einem "Ich wünsche euch eine gute Nacht, liebe Eltern!" erhebt er sich und macht sich auf den Weg nach oben.

 "Glaubst du, dass er ein Hobby hat, oder ein Interesse, das er wirklich leidenschaftlich verfolgt?" Norbert fährt mit dem Zeigefinger über den Rand des Bierglases. 

Seine Frau seufzt. "Neulich war ich oben in seinem Zimmer, um ein wenig aufzuräumen." Pause. "Wenn es überhaupt etwas zum Aufräumen gibt." Ratlos hebt sie die Schultern. "Sein Elektro-Technik-Baukasten ist wie immer in Benutzung. Mehr denn je, seitdem wir ihm den Laser-Kit geschenkt haben. Und dann sah ich Bücher über U-Boote und Raumschiffe." 

"Na, das ist doch was!" Norbert lehnt sich zurück.

"Nein, nein", entgegnet sie schnell. "Das missverstehst du. Das waren rein technische Bücher. Auf dem Schreibtisch lag auch eine Ausgabe von Einsteins Relativitätstheorie und daneben ein aufgeschlagener Sternatlas."

 "Haben die in der Schule nicht so etwas wie einen Astronomie-Arbeitskreis im Fach Geographie? Ich meine, Adrian hat das mal erwähnt."

 "Möglich, aber ich kann nicht behaupten, dass ihn dieses Thema fesselt. Er beschäftigt sich eben damit. Nicht mehr und nicht weniger." 
 
Norbert steht auf und rückt den Stuhl nach hinten. "Ich hole mir noch ein Fläschchen Bier aus dem Kühlschrank. Möchtest du ein Glas Wein?" Hildegard schüttelt den Kopf. Als Norbert wieder das Wohnzimmer betritt, bemerkt er beiläufig: "Ja, ja, unser Sternenkind!" Dann geht er auf seine Frau zu und legte liebevoll seinen Arm um ihre Schultern. Er drückt seine Nase in ihr Haar.

 "Erinnerst du dich? So nanntest du ihn doch gleich nach der Geburt. Unser Sternenkind."

 "Er war ein außergewöhnlich schönes Baby. Seine himmelblauen Augen funkelten wie Sterne, und sein Gesichtchen war rosig und glatt. Auch die Ärzte waren überrascht. Schon kurz nach der Geburt öffnete er die Augen und schaute mich mit einem Ausdruck grenzenlosen Erstaunens an."

"Nun ja", Norbert marschiert um den Tisch zu seinem Platz, "so interpretierst du das. Vielleicht handelte es sich bei Adrians Geburt um eine nur minimale Abweichung üblicher Vorgänge." 

"Übliche Vorgänge?"

"Jedes Neugeborene", Norbert setzt sich und öffnet die Flasche Bier, "jedes Neugeborene ist ein besonderes, ein ganz, ganz besonderes Baby."

 "Norbert, ich bitte dich!"

 "Moment, das ist das eine. Das andere", er nimmt einen kräftigen Schluck, "also das andere ist dieses 'grenzenlose Erstaunen'."

 Hildegard streckt sich und antwortet mit entschiedener Stimme:


"Ich weiß. Ich bin die einzige, die das zur Kenntnis genommen hat. Und es stimmt. Ich werde es nicht vergessen. Grenzenloses Erstaunen, so als ob er etwas anderes erwartet hätte."



 "Was sollte er denn erwartet haben? Vielleicht als Katze geboren worden zu sein?"

Hildegard senkt die Augen. Sie bleibt stumm. Augenblicke später schaut sie gedankenverloren zum Fenster, das bereits die Dämmerung verschattete.

Leise kommt es von Norbert: "Machst du dir wieder Sorgen um unseren perfekten Sohn?" Da klingt kein Vorwurf mit, eher Beschwichtigung und Mitgefühl.

"Ach", erwidert Hildegard verhalten, "manchmal wünschte ich mir, er wäre wie alle anderen Kinder, die mal eine schlechte Note nach Hause bringen, Ärger mit den Schulkameraden haben, Streiche ausheckt oder ..."

"Oder eine Fensterscheibe beim Nachbarn einwerfen!" 

Stille. Dann prustet Norbert heraus. "Es ist verrückt. Du machst dir Sorgen, weil unser Sohn keinen Anlass zu Sorgen gibt. So gesehen, ist ein sorgenfreies Leben ausgeschlossen."

 

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Hildegard zieht den Zündschlüssel und steigt aus dem Wagen. Die ersten Schüler verlassen das Schulgebäude. Etwas später kann sie Adrian ausmachen. Er ist umgeben von einer Gruppe Schulkameraden. In der Nähe halten sich Mädchen auf, die feixend zum "Angel", wie er von den kleinen Elfen genannt wird, herüberschauen.
 
"Everybodys Darling!" entfährt es ihr halblaut. 'Doch warum bloß diese Beklemmungen? Ich sollte glücklich sein, glücklich, einen Sohn wie Adrian zu haben!"

Nun hat Adrian seine Mutter entdeckt. Er drückt ein paar Hände, winkt den anderen lässig zu, die er nicht erreichen kann, und verlässt die Gruppe.

 "Hallo Mutter! Fahren wir in die Herrengasse?"

 "Auf geht’s! Steig ein!"

Sie startet und biegt in die Hauptstraße ein. Bei der Ampel stoppt sie, und während der Rotphase sinniert sie: 'es ist so schwierig, mit diesem Kind ein Gespräch anzufangen ...' Dann gibt sie sich einen Ruck.
 
"Manchmal ist es schwierig, mit dir ein Gespräch zu beginnen, Adri!"

 "Warum, Mutter?"
 
"Warum sagst du nicht 'Mamma' oder 'Mutti' oder 'Mom', was weiß ich was? Immer das vornehme 'Mutter'."

 "Ich glaube, das ist Gewohnheit – Mammi!"

 Aus den Augenwinkeln kann sie ihren Sohn lachen sehen. Er wendet sich ihr zu. "Und mit der Unterhaltung, weißt du... Es gehen mir gerade so viele Dinge durch den Kopf. Da ist die Sache mit der Bärbel ..."

 "Ist das die kleine Schwarzhaarige, die dich regelrecht belagert?"

"Genau, Mamma ..."

 Und zur Erleichterung Adrians plaudern sie während der Fahrt über belanglose "Du-hast-eine-kleine-Freundin-Dinge". 
 
'Ablenkungsmanöver erfolgreich!, denkt er und konzentriert sich, während die leichten Worte hin- und herfliegen, auf das Antiquariat von Schätzle.

 "Natürlich wieder kein Parkplatz!" Unmutig schleicht Hildegard die Herrengasse hinab.

"Lass' mich schon mal aussteigen, Mutti, du kannst ja später nachkommen!"

 Sie öffnet die Tür, und Adrian springt aus dem Wagen. Sogleich schlägt er die Tür wieder zu und verschwindet im Antiquariat. 'Kein Mensch hier. So habe ich mir das gewünscht'. Adrian begrüßt Herrn Schätzle und erwartet das "Grüß Gott, junger Mann".

 "Grüß Gott, junger Mann! Es geht um den Schrank, gell?" 

 Adrian nickt. 'Nun wird er nach "Frau Mutter" fragen', denkt Adrian. 'Das warte ich noch ab, dann werde ich tätig'. 

Erwartungsvoll blickt er Schätzle in die alten Augen.
 
"Und die Frau Mutter? Auch schon unterwegs?"
 
"Wird gleich kommen. Sucht einen Parkplatz!"

 "Ach die Parkplätze..." Adrian unterbricht das angedrohte Lamentieren, deutet mit der ausgestreckten Hand zum Schrank, und:

 "Darf ich mir das Objekt noch einmal anschauen, Herr Schätzle!"

 "Ich bitte meinen jungen Kunden darum!"

Und noch bevor der alte Mann folgen kann, eilt Adrian durch den Laden auf den Schrank zu. 

 "Du kommst alleine klar, gell?" 

hört er von hinten und winkt zustimmend mit dem Arm. Da steht er. Groß und mächtig. Ein Kleiderschrank. Eiche. Die kurzen gedrehten Füße gleichen kleinen kompakten Spielkreiseln. Eine untere Schublade ist mit verkratzten Intarsien versehen. Unwichtig. Jetzt die Tür. Leider nur mit dem Schlüssel zu öffnen. 'Aber den kann man ja stecken lassen. Einen Knauf werde ich jedenfalls nicht anbringen.' Schnell greift er nach oben und öffnet die Tür. Verhaltenes Knarren. Er betrachtet die Innenseite der Schranktür. Das Schloss ragt etwas heraus. Er versucht es mit der Hand zu umgreifen. 'Geht nicht. Zu groß! Hier muss ein Knauf her, damit ich die Tür von innen zuziehen kann!' Der Innenraum scheint groß genug zu sein. Keine Fächer und Borte. Die Kleiderstange wird stören. 'Die muss raus!' Dann versucht Adrian die Tiefe des Schranks abzuschätzen. 'Scheint zu reichen – aber mit ausgestreckten Armen wohl nicht. Vielleicht mit angewinkelten Armen?' 
 
Adrian hört die Ladentür und weiß, dass seine Mutter das Geschäft betritt. Er wartet auf Schätzles "Grüß Gott, die Frau Mutter, gell? Wie angekündigt. Da hinten probiert der Sohnemann den Eichenschrank aus." 

Die beiden kommen langsam näher. Adrian hat bereits die Schranktür wieder geschlossen. Er dreht den Schlüssel um, zieht ihn aus dem Schloss und hält ihn mit gekonnt gespielter stolzer Miene in die Höhe. Schätzle, ganz Geschäftsmann, greift danach.

 "Ah so! Alles inspiziert und für Recht gefunden, gell! Nun muss die Frau Mutter nur noch zustimmen ..."

 "Mein Gott, ist das ein Brocken, aber du wolltest ja..."

 "Der ist in Ordnung, Mom! Kann ich dir versichern. Passt genau ins Zimmer!"

 "Ja, dann ..." Unübersehbare Zeichen des Zweifels sind in Hildegards Gesicht geschrieben. Schätzle erlöst sie. Sein geschäftsmäßiger Singsang klingt durch den Raum:

 "Werte Frau. Wenn der Schrank sich nicht in das Kinderzimmer platzieren lässt, obwohl ihr Herr Sohnemann das versicherte, also wenn es dann trotzdem nicht klappt, dann holen wir das Stück wieder ab. Und überhaupt. Ich weiß ja gar nicht, was ich für dieses alte Möbel verlangen kann. Sind 40 in Ordnung, sagen wir 35 inklusive Transport?"

Zwei Tage später steht der Schrank im Kinderzimmer. Er passt, genau wie es Adrian angekündigt hatte. Das gemeinsame Abendessen steht kurz bevor. Adrian fürchtet es, denn er fühlt sich in einer unangenehmen Lage. Der Schrank würde thematisiert werden mit allen "Wenns", "Abers" und "Wofürs". Das muss er unbedingt vermeiden. Etwas Weiteres beunruhigt ihn weitaus mehr. Er muss seinen Eltern ein Versprechen abgewinnen, das unvermeidlich den Schrank in den Mittelpunkt ihres Interesses schieben würde. Er beschließt, die Sache auf sich zukommen zu lassen. 'Vertraue dem Augenblick, und lausche ihm ein Vorteil ab!' Das war sein Motto.
 
"Ich habe einen Wunsch in Bezug auf den Schrank". Damit eröffnet er das Gespräch, bevor noch ein Happen zum Mund geführt wird. Sein Vater reagiert spontan und wohlgelaunt. "Du möchtest ihn grün anstreichen?" 

 "Aber Norbert", sagt Hildegard, "lass ihn seinen Wunsch äußern!" 

 Adrian überlegt. 'Das ist eine günstige Ausgangsposition. Ich nutze sie. "Zugegebenermaßen ist mir dieser Gedanke gekommen, und ich freue mich, dass ihr so etwas vermutet habt. Doch, es geht ..."

 "Na Junge! Los doch, komm schon! Sag alles!" unterbricht ihn der Vater. Und Adrian schießt los:

 "Ihr müsst mir versprechen, den Schrank niemals zu öffnen, es sei denn, ihr werdet von mir dazu aufgefordert."
 
Nun stutzen sie beide. Sie sehen ihren Sohn erwartungsvoll an, so als ob sie mit einer weiteren Erklärung rechneten. Stille. Absolute Stille. Das Gesicht von Norbert entspannt sich schließlich und in gespieltem Ernst, den Adrian sofort durchschaut, richtet er die gewichtigen Worte an seinen Sohn:
 
"Ein Junge muss Geheimnisse haben!" Er blickt Zustimmung heischend zu seiner Frau. "Geheimnisse fördern den Reifeprozess." Hildegard nickt, ohne so recht zu wissen warum. Norbert schiebt nach: "Ein wahres Geheimnis ist eines, was man mit niemandem teilt. Daran trägt man schwer. Die Last eines Geheimnisses lässt einen wachsen."

Adrian lehnt sich zurück, bemüht, ein Grinsen zurückzuhalten. Und so, als ob die Mutter fürchtete, der Sohn möge unter der Last seines Geheimnisses leiden, fragt sie schnell:
 
"Ist es eine Überraschung? Vielleicht auf Weihnachten? Du sagtest doch, dass wir den Schrank öffnen dürfen, wenn du uns dazu aufforderst."
 
"Oh ja", antwortet er. Nur Hildegard bemerkt den seltsamen Ausdruck auf Adrians Gesicht. Norbert beschäftigt sich bereits mit der Wurstplatte.
 
"Möchte jemand Cervelat oder Camembert? Die Wiener Würstchen brauchen noch ein bisschen".
 
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In den folgenden Tagen arbeitet Adrian an seinem neuen Schrank. Hämmer- und Sägegeräusche sind unüberhörbar.
 
"Ich platze vor Neugier."

 "Norbert, halte dich zurück!" Hildegard hebt mahnend den Zeigefinger. "Denke an unser Versprechen!" Nach ein paar Wochen bemerkt Hildegard beiläufig, dass Adrian den Schrank weder "umgebaut" noch "angemalt" hat. Dann ist der Schrank kein Thema mehr.
 
Eines Abends, es ist Mitte September, ruft Hildegard wie üblich ihre Männer zum Abendessen. Es duftet herrlich nach Nudelauflauf. Die üblichen Gespräche. Schule, Beruf, Alltag. Norbert öffnet eine Flasche Weißwein. Ausnahmsweise. Für Adrian eine Cola. Ebenfalls ausnahmsweise. Da sagte Adrian unvermittelt:

 "Liebe Eltern, ich wollte euch immer schon einmal sagen, dass ich es sehr gut bei euch habe. Ich glaube, das ist nicht selbstverständlich."


 "Aber Adrian", fährt Hildegard erschrocken hoch, "was sagst du da?" 



 Und Norbert fügt hinzu: "Willst du uns einen Orden verleihen?"

 "Ich dachte", fährt Adrian fort, "dass ich euch das einfach einmal sagen muss: Habt Dank ...". Er unterbricht sich und schluckt trocken. 

Fassungslos starren ihn Norbert und Hildegard an, und Adrian spürt, dass er diesen Satz vollenden muss. "Habt Dank für alles, für eure Fürsorge..., für die liebevolle Fürsorge, und denkt immer daran, dass ich ..." Er bekommt ihn nicht zu Ende, diesen Satz. Er stockt. Dann erhebt er sich mit der Serviette: "Lebt wohl, ich meine, Gute Nacht! Ich bin so müde. Anstrengender Tag."

Schnell wendet er sich ab und eilt aus dem Zimmer. Stakkato auf der Treppe. Und Stille.

"Was war das denn?"

Norbert greift mechanisch zur Weinflasche und schenkt nach.

"Das war merkwürdig. Ganz und gar merkwürdig."

Hildegard zuckt mit den Schultern.
 
"Noch nicht einmal 21 Uhr!" Norbert schaut verdrießlich über den Tisch, trinkt sein Glas aus und greift erneut zur Flasche. Während er zum Glas seiner Frau hinüberlangt, kommt es leise:

"Jetzt bin ich es, der sich Sorgen macht."
 
"Willst du nicht einmal nachschauen?" Hildegards Stimme zittert.

Norbert erhebt sich, geht um den Tisch und hebt die Faust mit erhobenem Daumen und mit einem "Bring ich in Ordnung!" steigt er die Treppen hinauf zum Kinderzimmer. Hildegard verfolgt die Schritte ihres Mannes. Er scheint vor der Zimmertür zu verharren. 

Dann vernimmt sie ein verhaltenes "Adrian?" Stille. Wieder ein paar Schritte. Jetzt steht Norbert vor der Badezimmertür. Und wieder: "Adrian?" Nichts. Eine kurze Weile später hört Hildegard, wie Norbert die Tür zum Kinderzimmer öffnet. Es folgt ein Ruf, ein alarmierender Ruf: "Hildegard! Hildegard, komm schnell herauf!" 

Ein glühender Stich ins Herz. Sie zuckt zusammen und hastet die Treppe hinauf. Oben angekommen, erwartet sie Norbert mit bleichem Gesicht. "Er ist nicht hier. Er ist verschwunden!"

"Und im Bad?"

 "Auch nicht!"

 "Aber das kann..., das ist doch unmöglich! Eben noch..." Sinn- und ziellos stürzt sie mit kurzen ungelenken Schritten zum unbenutzten Bett, zum aufgeräumten Schreibtisch und zum Fenster.

 "Das Fenster ist verschlossen."

 "Der Schrank!" Norbert deutet auf das monströse Möbel. Hildegards Hände fliegen zum Mund. Sie erstickt einen Schrei. Da ist Norbert heran und öffnet die Schranktür. Hildegard wendet sich ab.

 "Kannst beruhigt sein. Leer wie die Nacht!"

Nach einer Weile verlassen sie das Kinderzimmer, schauen noch einmal im Bad nach und steigen die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. 

Eine Stunde später klingelt es an der Haustür. Norbert stürzt nach vorn und reißt die Tür auf.

"Klein, Wachtmeister Klein. Sie hatten angerufen. Ihr Sohn ist vermisst. Was kann ich für sie tun?"

"Tun?" Norbert kratzt sich am Kopf. "Tun? Finden sie ihn!"

"Mach' ich! Nur ein paar Fragen."

Nachdem sie dem Wachtmeister die Ereignisse der letzten beiden Stunden und noch einiges über ihr Sternenkind erzählt haben, lehnt sich er Klein zurück und lächelt.

 "Freundin?"

 "Er hat einmal etwas von einer Bärbel erzählt!" Hildegard beugt sich vor und schenkt dem Polizisten ein zweites Glas Bier ein. 

 "Und?"

 "Nichts und!" Norbert spürt Nervosität in sich hochsteigen. 'Für den ist das Routine! Der weiß, dass Adrian wieder auftaucht!

 "Wir haben dort noch nicht angerufen. Zu spät jetzt. Aber, wissen Sie, es ist fast ausgeschlossen, dass sich Adrian heimlich auf den Weg macht, um eine Freundin zu besuchen ... Und das in der  Nacht."

Der Wachtmeister trinkt in langen Zügen das Bier aus, lächelt Hildegard aufmunternd zu, eine weitere Flasche zu öffnen und leise, fast für sich:

"Fast ausgeschlossen. Fast."

Hildegard schaut Norbert an. Der zuckt die Schultern. Dann richtet er sich auf.

"Wir sind ja nicht einmal sicher, dass er das Haus verlassen hat. Wie hätte er das anstellen sollen? Wir haben Abendbrot gegessen.Wenige Augenblicke, nachdem er den Tisch verlassen hat, bin ich ihm ja nach ... "

"Und dann?"

Der Polizist greift zum Glas.

 "Verschwunden!"

 "OK! Geben Sie eine Vermissten-Anzeige auf! Dann: Hausdurchsuchung und der übliche Kram."

Er erhebt sich, nickt dem Ehepaar zu, und mit einem "Danke für das Bier!" begibt er sich zum Ausgang. Als Hildegard und Norbert ebenfalls aufstehen, wendet er nur kurz seinen Kopf.

"Machen Sie sich keine Mühe. Ich finde den Ausgang, so wie ich ihn bisher überall gefunden habe."

Die Tür fällt ins Schloss. Ratlosigkeit. Hildegard eilt zum Fenster und unterdrückt einen Schluchzer. Norbert überlegt, was zu tun sei. Er schüttelt langsam den Kopf. Nichts zu tun!

Am nächsten Morgen, eigentlich noch viel zu früh, greift Hildegard zum Telefon. Sie ruft das Schulsekretariat an, um Adrian zu entschuldigen. 

"Ja, krank. Fieber! Das Übliche. Hat sich wohl verkühlt." Und nach weiteren hohlen Wortwechseln: "Sagen Sie, ich brauche die Telefonnummer von Bärbels Eltern – die kleine Schwarze aus der Siebten."

Sie notiert die Nummer und ruft sogleich an. Der sorgenvolle Tonfall ist nicht zu überhören.

"Adrian? Nein." Bärbels Mutter lacht. "Dieser angenehme, gut erzogene Junge hat sich hier leider noch nicht blicken lassen. Schade, er ist uns immer herzlich willkommen. Ist etwas passiert?"

"Nein, nein. Ich dachte nur. Adrian war, also er ist ... Nein, alles in Ordnung. Vielen Dank und auf Wiederhören!"

Norbert hat sich Hildegard genähert. 

"Wir können Gott und die Welt anrufen... Wir sollten jetzt eine Vermissten-Anzeige aufgeben! Lass mich mal!"

Er greift zum Telefonhörer.

Gegen Mittag kehren Adrians Eltern erschöpft vom Polizeirevier zurück. Erstaunt stellen sie fest, dass ein Mann vor ihrer Tür steht. Er muss gerade eingetroffen sein, denn er drückt, wohl zum wiederholten Mal, den Klingelknopf.

"Wollen Sie zu uns?"

 "Wentzel?"

 "Ja, das sind wir!"

 "Brenner, Rechtsanwalt Brenner." Der mittelgroße Mann wendet sich dem Ehepaar zu und streckt den Arm aus. In der Hand hält er einen Brief.

"Heute, am 21. September gegen Mittag soll ich Ihnen diesen versiegelten Brief überreichen. Ich glaube", und jetzt lächelt er, "er stammt von Ihrem Sohn Adrian Wentzel!"

Hildegard greift nach dem Brief. "Von unserem Adrian?" bringt sie mit zitternder Stimme heraus.

 "Ich muss sie allerdings bitten, mir die Überstellung zu quittieren. Ihr Sohn war darauf bedacht, dass ich Ihnen diesen Brief an diesem Tag und zu dieser Stunde überreiche."

 Norbert geht einen Schritt auf den Boten zu.

"Seit wann ist der Brief in Ihrem Besitz?" Er bellt diese Frage heraus. Ruhig antwortet Brenner: 

"Seit genau vier Wochen. Vier Wochen auf den Tag."

Nachdem Norbert die Unterschrift geleistet hat, fragt Hildegard:

"Schulden wir ihnen etwas?"

"Nein, ihr Sohn hat bereits den Betrag beglichen. Ich darf mich von Ihnen verabschieden."

Norbert und Hildegard hasten ins Haus. Hildegard reißt den Umschlag auseinander und entfaltet den Brief. Schnell hat sie die wenigen Zeilen überflogen. Mit tonloser Stimme:

"Liebe Eltern. Mir geht es gut. Ich habe endlich meine Heimat gefunden. Öffnet bitte heute Abend gegen 21.45 Uhr den Schrank. Dann werdet ihr wissen, wo ich bin. Euer Sohn Adrian."

"Was soll das?" Und mit einem Satz springt Norbert auf die Treppe und poltert nach oben.

"Nein! Norbert! Nicht! Erst heute abend!"

Doch er hat bereits das Kinderzimmer erreicht, stürzt auf den Schrank zu und reißt ungestüm die Tür auf. Nichts. Ein leerer Schrank. Er wankt zurück. Hildegard steht im Zimmer. Tränen rinnen ihre Wangen herab.

"Heute Abend, Norbert. Heute Abend!"

"Ist Dir klar, dass wir schon zwei Mal unser Versprechen gebrochen haben?"

Hildegard flüstert. Beide hocken vor dem Schrank im Kinderzimmer.

"Es ist gleich so weit. Vielleicht sollten wir das Licht ausschalten."

"Dann ist es dunkel. Wir sehen nichts"

"Wer weiß."

Norbert erhebt sich langsam und geht auf den Schrank zu. Er greift zum Schlüssel, um die Tür aufzuziehen. Er zögert, dann dreht er ihn um. Knarrend öffnet sich der Schrank -spaltbreit.

"Kommst du?"

"Mach nur. Ich sehe alles."

"Nein, komm!"

Dann steht Hildegard neben ihrem Mann. Die Tür geht auf. Das Licht im Zimmer erlöscht. Im Schrank geht ein seltsames Strahlen auf. In der tiefen Schwärze blinken Lichtpunkte, die rasch an Größe gewinnen, kreisen umeinander und schließen sich zu kompakten Girlanden zusammen. Sie organisieren sich zu Spiralen und scheiden kleine rotierende Kugeln aus, die in wechselnden Farben schimmern. Sie ziehen ihre Bahnen um grelle Feuerbälle, die ihre Positionen halten. Allmählich löst sich eine der Kugeln aus dem planetarischen Verbund und schwebt in den Vordergrund, um sich in ihrer orange-marmorierten Oberfläche zu präsentieren. Kaum merklich leuchtet sie auf. Für Augenblicke streicht ein goldener Lichtschein über die Gesichter der Fassungslosen. Dann erlischt das Sternentreiben. 

Die Deckenlampe leuchtet wieder. Norbert schließt die Schranktür. Er greift nach Hildegards Hand. Beide verlassen das Zimmer.

Am folgenden Tag machen sich zwei Arbeiter über den Schrank her. Sie zerlegen das Ungetüm und transportieren es ab. 


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