Alles umsonst
© Dr. Ehrenfried Kluckert
Scheuter betritt den Konferenzraum, ohne seine Kollegen zu
begrüßen. Er hält den Kopf gesenkt, strebt seinem Platz am Kopfende des Tisches
zu und setzt sich. Stille. Er nestelt sein elektronisches Memo hervor, runzelt
die Stirn und bringt heiser hervor: „Dann machen wir das mit Alfol, oder?“
Langsam wenden sich die Köpfe der Anwesenden Bonelli zu. Der
räuspert sich, hebt den Arm und „Wir sollten Dom-Levidor nicht außer Acht
lassen!“
Ruckartig geht der Kopf von Scheuter in die Höhe: „Dom-Levidor?
Ausgeschlossen!“
Darauf scheint Bonelli gewartet zu haben. „Wir könnten den
Deal über Shimbali abwickeln!“
Ein Raunen geht durch den Raum. Die Teilnehmer schenken ihre
Aufmerksamkeit Bonelli, der in die Richtung von Scheuter blickt. Doch der bleibt
stumm. „Shimbali ist unverfänglich im Gegensatz zu Alfol. Das ist ein
Wackelkandidat“, setzt Bonelli nach.
Beifälliges Nicken. Doch Scheuter versenkt sich wieder in
sein Memo und schüttelt nur leicht den Kopf. „Wir haben schon viele Deals über
Shimbali abgewickelt. Die Zahlungsmoral ist gut, und Dom-Levidor lässt sich auf
den Höchstpreis ein.“
Bonelli scheint zu spüren, dass die Mehrzahl der
Vorstandsmitglieder seiner Strategie folgt. Noch ein paar weitere Argumente,
und Alfol ist aus dem Rennen.
Gerade wollte er sich wieder zu Wort melden, hebt Scheuter
erneut seinen Kopf und blitzt ihn an:
„Dom-Levidor hat die Mond-Flotte von Zanko zerstört. Die
Meldung erhielt ich vor knapp einer halben Stunde.“
Dom-Levidor gehört zu den technologisch am weitesten
entwickelten und wohlhabendsten Planeten im Ringsystem von X02 im Sternbild
Leier. Möglicherweise stammen die
"Doms" von den Menschen ab. Wahrscheinlich handelt es sich um Klone,
die nach der sogenannten ersten Erdphase Terra verlassen haben, um in einem
Winkel der Galaxis eine neue Heimat zu finden. Man erzählt sich, dass sie sich
dort als Post-Menschen ausgegeben und sich höher entwickelt haben. Kein Terraner
hat sie je zu Gesicht bekommen.
Die Zahlungsmoral von Dom Levidor ist vorbildlich. Höchstpreise
für Waren aller Art. Doch die Verträge sind grausam. Sollte sich die Lieferung
verzögern, dann reduzierte sich der Preis um 50%. Bei einer weiteren
Verzögerung, aus welchen Gründen auch immer, ist mit Sanktionen zu rechnen, die
im Ermessen der Auftraggeber liegen. Dom-Levidor konnte durchaus die Geduld
verlieren und seinem Handelspartner schwersten Schaden zufügen. Das musste
Zanko erleiden, der, wie fast alle mondbestückten Planeten, seine Raumflotte
auf dem Trabanten stationiert hatte. Zanko blieb nach mehrmaligen
Aufforderungen die Lieferung schuldig, da ein verheerender Sturm die
Fabrikanlagen zerstört hatte. Doch für Dom-Levidor war das keine akzeptable
Entschuldigung, da ihm das Phänomen "Sturm" fremd war. Und
Dom-Levidor duldet keine Unregelmäßigkeiten.
Das war das eine. Das andere: Dom-Levidor war stark, so
stark, dass in diesem Abschnitt der Galaxis niemand wagen würde, Protest gegen derartige
Sanktionen einzulegen.
Doch Bonelli gab nicht auf. „Verantwortlich bleibt Shimbali.
Was auch immer passiert, unsere Lieferung erfolgt pünktlich, das kann
garantiert werden.“
Scheuters Gesicht hellt sich auf. „Wenn Shimbali versagt,
dann erhalten wir unser Geld nicht.“ Er grinst, da er die zunehmende Nervosität
Bonellis bemerkt. Der versucht zu kontern:
“Shimbali zahlt 50% des Gesamtpreises – im voraus! Damit
wären bereits unsere Kosten gedeckt.“
„50% von welchem Handelsumfang, lieber Bonelli?“
„Es geht hier um sechstausend Tonnen Alutec – nicht mehr und
nicht weniger!“
Scheuter senkt den Kopf und schaute auf sein Memo. Dann
kommt es ganz leise: „Alfol erhält neuntausend Tonnen. Wir erhalten 50% des
Preises unmittelbar nach dem Start der Transporter und 50% nach dem Eintreffen
der Ladung.“ Und bevor Bonelli antworten kann: „Ich denke dabei nicht an die
Kosten, sondern an unseren Verdienst.“ Sagt er, erhebt sich und verlässt mit
einem spöttischen Lächeln den Raum.
Die Blicke sind auf Bonelli gerichtet, der verlegen die
Augenlieder senkt.
„Wir sollten unsere rechtmäßigen Einspruchsoption gegenüber
Scheuter formulieren“, fordert Gorlenko. „Im Falle einer sich ankündigenden
Unregelmäßigkeit mit Alfol, greifen wir auf die Dom-Levidor-Shimbali-Variante
zurück“, fährt er fort. „Wenn wir uns in diesem Fall einig sind, werde ich das
Papier heute Nachmittag zusammen mit dem Alfol-Gutachten Scheuter vorlegen!“
Sie waren sich bald einig, doch Gorlenko und Bonelli
wussten, dass Scheuter ihnen wieder einmal überlegen war.
„Du kannst strampeln und strampeln, Bonelli, Du stichst
Scheuter nicht aus.“ Nique greift hinter den Kopf in ihr langes blondes Haar, windet
es geschickt zu einem Knäuel zusammen und steckt es sich mit ein paar
Haarnadeln hoch. „Und außerdem, was willst Du? Alfol ist doch OK!“
„Eben nicht“, gibt Bonelli trocken zurück. „Das weißt Du
besser als jeder in der Firma.“
„Eure Einspruchsoption ist jedenfalls albern“, fährt Nique
fort. „Warum wollt ihr es darauf ankommen lassen?“
Bonelli schweigt und klopft mit dem Bleistift nervös auf den
Tisch. Missmutig fügt er hinzu: „Und das mit den neuntausend Tonnen Fracht ist,
ist ...“, er zögerte, „einfach unseriös. Wo will er die zusätzlichen
dreitausend Tonne hernehmen?“
„Spielt das eine Rolle, Bonelli? Es hat doch gewirkt! Nique
lacht. "Das mit dem „unseriös“ hättest du Scheuter sagen sollen, und nicht
mir!“ Nique beugt sich langsam vor und legte ihrem Gegenüber die Hand auf die
Schulter. „Bonelli, Du hast uns beiden mit Deiner verdammten Einspruchsoption
einen Bärendienst erwiesen!“
Verständnislos schaut er auf. „Was soll das? Wir mussten
doch ...“
Sie winkt ab und unterbricht ihn. „Scheuter geht auf Nummer
sicher. Er wird mit Alfol einen persönlichen Kontrakt abschließen.“
Bonelli lacht auf. „Will er rübersegeln?“
„Nein, er nicht.“
„Du etwa? Du hast doch schon so viele Jahre verloren oder
gewonnen, wie auch immer! Er kann doch nicht...!“
„Er kann! Vergiss nicht, ich habe einen Job in der Firma.“
Bonelli lehnte sich süffisant lächelnd zurück. „Ok Nique!
Das war der Bärendienst, den ich Dir geleistet habe. Tut mir leid, aufrichtig
leid. Musst eben Deinen Job machen! Stell Dir vor, wenn Du für den Return
wieder das Zeitfenster verpassen solltest, findest Du hier an dieser Stelle
eine Greisen-Gesellschaft vor.“
„Ich weiß, Bonelli, kleiner dummer Bonelli. Willst Du nicht
wissen, welchen Bärendienst Du Dir selbst geleistet hast?“
Er zuckt mit den Schultern und wendet sich verächtlich ab.
Doch die junge Frau lässt sich nicht beirren. Mehr für sich, sagt sie, da
Bonelli sich bereits erhoben hat:
„Es könnte sein, dass ich nicht erfolgreich bin. Dann würde
Eure Option greifen und Dom-Levidor kommt ins Spiel. In diesem Fall lieber
Bonelli, bete zu Gott, dass Du erfolgreich bist!“
Alfol ist der einzige trabantenlose Planet, der um den
Doppelstern Deutix kreist. Das System ist in der Schulter des Orion beheimatet.
Mit dem Lichtsprung mittels der Technik der Raumzeit-Raffung ist eine Passage
von nur wenigen Wochen möglich. Man verliert nur etwa ein halbes Jahr, d.h.:
Nach dem Return sind die Menschen daheim nur um 6,5 Monate älter geworden als
man selbst. Doch sollte man das äußerst knapp bemessene Zeitfenster verfehlen,
ist eine weite Schleife über den Riesenplaneten Bluxte nötig, um deren
Gravitationsfeld als Katapultfunktion zu nutzen. In diesem Fall wäre man sechs
Monate unterwegs. Auf der Erde sind dann 18 Jahre vergangen.
„Ich wäre fast auf Bluxte niedergegangen, Freunde“, berichtete
Nique damals. „Ihr kennt ihn ja, Bluxte den Ferienplanet. Alles Karibik! Aber
man steht ja treu zu seiner Firma, verdammt!“
Am Himmel von Alfol stehen zwei Sonnen. Sie sind auch der
Grund für das komplizierte atmosphärische System. In unregelmäßigen Rhythmen
sinkt der Luftdruck schlagartig, so dass man seinen Raumhelm sofort aufsetzen
und aktivieren muss – wenn er zur Hand ist. Ansonsten sind die Lüfte süß und
die Winde weich. Nur in der Nacht braust die Atmosphäre auf und schickt
blitzdurchzuckte Regenböen über das Meer, die sich bis zu orkanartigen Stürmen
steigern können. Die Alfolianer sind stolze Wesen – etwa an die zwei Meter
groß. Menschen müssen zu ihnen aufschauen. Vielleicht verhalten sie sich deswegen
besonders friedlich und freundlich gegenüber den "Humanos", wie sie
die Bewohner von Terra nennen, um ihnen die Scheu zu nehmen. Herablassung, und
das könnte ja ihrer Meinung nach durch einen abschätzigen Blick nach unten und
damit auf jemanden herab angedeutet werden, gilt als Todsünde. Die Alfolianer
wären am ehesten mit der Gestalt einer aufrecht stehenden Gottesanbeterin zu
vergleichen. Die Tentakel fehlen. Statt dessen besitzen sie zwei kurze Beine
und an den Schultern unterhalb des Kopfes zwei Arme. Ihr Gesicht ist markiert
von einem kleinen Mundschlitz, zwei punktförmige Öffnungen für das, was wir
Nasen nennen und zwei wunderschöne Augen, die wie Edelsteine funkeln. Sie sind
von einer hohen Intelligenz, die sie technologisch nie genutzt haben. Kein
Mensch weiß, warum sie auf die Raumfahrt verzichteten, vielleicht, weil sie so
unkonventionell denken – unkonventionell im menschlichen Sinne.
Niques Statement, „sie sind weder erfolgs- noch
machtorientiert, sie ruhen in sich selbst, und das genügt ihnen“, wurde nicht
verstanden, oder wollte nicht verstanden werden.
Nique, ein Star unter den Raumfahrern im diplomatischen
Dienst, gilt als die beste Kennerin von Alfol. „Die ticken einfach anders“,
sagte sie und versuchte, das dem ratlosen Vorstand zu erklären: „Stellt euch
vor, ihr diskutiert einen wichtigen Tagesordnungspunkt. Plötzlich fangt ihr
alle an zu lachen, erhebt euch und verlasst den Raum, ohne Erklärung und ohne
eine Verabredung für ein späteres Treffen.“
Seit vielen Jahren war bekannt, dass Alfol seine
Infrastruktur im Verkehrswesen verbessern wollte. Es sollten unter anderem
Brücken, Anlegestege für Schiffe und Raumgleiter für kurze Distanzen gebaut
werden. Technische Probleme gab es nicht, doch fehlte es an entsprechenden
Rohstoffen. Das von Terra auf dem Mond abgebaute Alutec erwies sich als extrem
flexibel und zugleich äußerst belastbar, so als ob im Vergleich der härteste
Stahl gummiartige Eigenschaften besitzen würde.
Nique knüpfte damals die ersten Kontakte. Handelsbeziehungen
wurden aufgenommen. Schließlich deutete alles darauf hin, dass der Deal erfolgreich
zu Ende geführt werden konnte. Dann kam es zu ersten Irritationen. Die
Ansprechpersonen waren nicht mehr erreichbar. Andere, die von den Verhandlungen
nichts wussten, traten an deren Stelle. Erneute Botschaften wechselten durch
den Raum. Endlich hatte man den alten Verhandlungsstand wieder erreicht, doch
tauchten plötzlich Probleme mit den Zahlungsmodi auf. Obwohl Alfol eine
galaktisch akzeptierte Währung angeboten hatte, zog sie diese wieder zurück und
brachte unverständlicherweise die Transmutatoren ins Spiel. Damit entstand eine
neue und unvorhersehbare Situation, die niemand ausloten konnte. Man wusste,
dass Transmutatoren kleine Wundertiere waren, waschbärgroße Kreaturen, die jede
Art von pflanzlicher Nahrung durch den Verdauungsprozess in diamantharte
Kristalle verwandelten.
„Unser Diamant, so wie wir ihn kennen“, erklärte Nique,
„nimmt sich wie Schaumstoff gegen diese Steine aus.“
Das war ein unerwarteter wirtschaftlicher Faktor, den es zu
bedenken galt. Schließlich: „Warum keine Trans?“, fragte man sich und schickte
Nique erneut auf Mission nach Alfol. Die Passage verlief verhängnisvoll. Eine
minimale Unregelmäßigkeit in der Sauerstoffversorgung des Raumschiffs – eine
aufwändige Reparatur – das Zeitfenster war verpasst. Bei Antritt ihrer Reise pubertierte
ein pickelgesichtiger Scheuter, nach ihrer Rückkehr befand sich der gesamte ihr
bekannte Vorstand von Alutec in Pension. Scheuter war gerade zum Chairman
gewählt worden.
„Du weißt Nique, ich bin immer noch an den Trans
interessiert.“ Scheuter lehnt sich in den Sessel zurück. „Doch wäre das
firmenpolitisch katastrophal, sich die Fracht in „Trans-Währung“ auszahlen zu
lassen.“
Nique schüttelt den Kopf. „Ich verstehe die Alfolianer erneut
nicht. Bis vor kurzem hieß es doch: Ausfuhrverbote für Trans, da es sich um
Heilige Tiere handelte. Und plötzlich ...“
„Vergiss es! Es geht um andere Dinge. Der Deal mit Alfol
muss zu Stande kommen!“
„Du denkst an Bonelli?“
Scheuter starrt aus dem Fenster und verfolgt den Flug eines
Gleiteres in den rostroten Abendhimmel. Dann räuspert er sich und, ohne seinen
Blick vom Fenster abzuwenden:
„Nique, ich muss Dir etwas gestehen. Muss geheim bleiben
zwischen uns. Bonelli ist dabei, die Firma zu ruinieren. Sein
Ziel, mich auszuhebeln, macht ihn blind für effektvolles Handeln. Natürlich hat er mit Dom-Levidor Recht: Das wäre lukrativ! Aber eben auch gefährlich.“
Ziel, mich auszuhebeln, macht ihn blind für effektvolles Handeln. Natürlich hat er mit Dom-Levidor Recht: Das wäre lukrativ! Aber eben auch gefährlich.“
„Außerdem“, unterbricht Nique ihn, „kann man nicht absehen,
wie sich Shimbali in einer Krisensituation verhält.“
Scheuter wendet sich ihr zu und lacht: „Das ist es! Aber da
gibt es noch etwas. Ich habe eine Botschaft von Shimbali erhalten, der zu
Folge, die Shimbalesen einen Eigenbedarf an Alutec anmeldeten. Für die nächsten
6 Jahre jährlich eine Tonne! Was sagst Du dazu?“
„Freut mich zu hören“, kommt es trocken von Nique. „Dann
kann ich mir den Alfol-Transfer sparen.“
„Eben nicht. Ich sagte ja, die Sache mit Alfol genießt
höchste Priorität. Wenn ich jetzt Shimbali ins Spiel bringe, habe ich in den
Augen Bonellis verloren. Der sagt dann: "Also doch Dom-Levidor!" Das
mit dem Eigenbedarf nimmt mir niemand ab. Die springen alle auf die Seite
Bonellis.“
"Moment mal", meldet sich Nique, " wie kommt
es, dass auf einmal, gewissermaßen ohne Vorwarnug, Shimbali einen Eigenbedarf
an Alutec anmeldet?
Scheuter winkt ab.
"Das muss doch einen Grund haben, Scheuter!"
Der Angesprochene hebt stumm beide Hände und zuckt mit den
Schultern.
„OK Scheuter. Wie auch immer. Das Problem liegt doch wohl woanders:
Wie willst du gleichzeitig, wie soll ich sagen, gleichzeitig Shimbali und Alfol
bedienen? Mit anderen Worten: Wie willst du den Kreis quadrieren?"
Auf diese Frage scheint Scheuter gewartet zu haben: „Ganz
einfach: Ein Fünftel der ersten Sendung geht an Alfol und gleichzeitig vier
Fünftel an Shimbali – nachdem du die Sache auf Alfol perfekt gemacht hast.
Compris?“
„Moment mal! Die Firma erhält fünfzig Prozent der
Gesamtsumme nach Abflug der ersten Ladung von der Mondbasis. Doch nur ein
Fünftel ...“
Scheuter winkt ab. „Das musst Du mir nicht vorrechnen!“
„Aber das ist doch ...“ Nique hat sich erhoben.
„Betrug? Setz Dich! Alfol erhält alles, was ihm zusteht –
nur etwas später!“
„Etwas? Wie wollt ihr die Produktion steigern? Ihr seid doch
jetzt schon am Limit!“
Scheuter dreht sich auf seinem Sessel und starrt wieder nach
draußen. Nique marschiert um den Sessel herum und baut sich vor Scheuter auf.
„Sage mir ganz schnell, wie Du eine mögliche Produktionssteigerung finanzieren
willst, sonst verlasse ich unverzüglich den Raum!“
„Mit dem Vorschuss von Alfol!“
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Nique legt sich in die Koje, reguliert die Temperatur, dimmt
das Licht ab und drückt sich mit einem leisen Seufzer die Kanüle in den Arm.
Dann schließt sie die Augen und murmelt "Gute Nacht, und bis Morgen
früh!"
Mit "Morgen früh" ist das Ende der Passage nach
etwa 12 Tagen gemeint. Dann ist der Doppelstern Deutix erreicht, und die
Astronautin muss die Umlaufbahn von Alfol berechnen, diese an die Raumzentrale
von Alutec übermitteln und den Gleiter für die Landung auf dem Planeten
vorbereiten. Die Zentrale überwacht die Systeme und den Kurs des Raumschiffes,
während sich Nique auf Alfol befindet. Sollten Störungen auftreten, wird Nique
unverzüglich benachrichtigt, um schlimmstenfalls ihre Mission auf dem Planeten
abzubrechen. Wahrung des Zeitfensters und sichere Heimkehr haben absolute
Priorität.
Bei dem Raumschiff handelt es sich um ein älteres Modell der
Penta-Klasse, einem Produkt von Dom-Levidor. Penta steht für die fünfte
Dimension, die den Doms, wie man die Bewohner dieses exotischen Planeten auch
nennt, bekannt war und die sie technologisch umzusetzen wussten. Auf dieser
Grundlage, gekoppelt mit einem komplizierten Anti-Gravitationsantrieb konnten
mittels Raum-Zeitraffung Geschwindigkeiten jenseits der Lichtgrenze erreicht
werden. Die Doms scheuten sich nicht, diese Schiffe auch anderen galaktischen
Zivilisationen zur Verfügung zu stellen, die allesamt nachweislich nicht in der
Lage waren, die fünfte Dimension mental zu begreifen. Ein Nachbau war damit
ausgeschlossen. Zu ungewöhnlich günstigen Leasing-Raten verteilten die Doms
ihre begehrten Schiffe, um den intergalaktischen Handel zu fördern. Davon
profitierte natürlich in erster Linie sie selbst.
Das Schiff hatte nicht nur die Gestalt einer Pyramide,
sondern auch die Größe einer solchen – etwa die der Cheops-Pyramide von Gizeh
bei Kairo. Im Zentrum, dort, wo sich die ägyptische Totenkammer befand, war die
Kommandozentrale eingerichtet – übrigens ohne Sichtfenster. "Wozu
auch", äußerste Nique, "wenn man die lange Reise entlang der weißen fernen
Glitzerpunkte um eine herum ohnehin schlafend verbringt."
Für das beeindruckende Schauspiel der Annäherung eines
solaren Systems, kann man sich in eines der Relaxzonen mit weiten Außenfenstern
begeben. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits der künftige Kurs auf die
planetarische Umlaufbahn und diese selbst programmiert.
Mit ihrer Lieblingsmelodie aus Vivaldis
"Frühling", wurde Nique geweckt. "Guten Morgen" grinst sie,
rekelt sich, und – zuckt kurz zusammen. "Jedes Mal dasselbe! Ich lerne das
nie!" Sie tastet zu ihrer Kanüle und zieht sie langsam aus dem linken
Unterarm heraus, klemmt den Ernährungsschlauch ab und wickelt sich dann langsam
aus ihren Decken. Sie betritt die Duschkabine. Allmählich kehrten ihre
Lebensgeister zurück. "Alfol, ich komme!"
Nachdem Nique die Koordinaten der Umlaufbahn fixiert und die
Daten zur heimischen Zentrale übermittelt hat, versucht sie, aktuelle Daten
über Alfol zu bekommen.
"Herbst", denkt sie, "goldener Herbst auf
Alfol!" Die Vegetation war zwar nicht mit der terrestrischen zu
vergleichen, doch stimmten die Jahreszeiten und deren visuelles
Erscheinungsbild durchaus mit der mediterranen Welt überein. Bäume gab es
nicht, aber wiesen- und buschähnliche Gebilde mit langen stachelartigen
Zweigen, die sich zu Büscheln formen. Im Frühling trieben sie bunte Bällchen
hervor, die dann im Sommer abfielen, eingesammelt wurden und wohl als Beilage
wohlschmeckender Gerichte dienten. Im Herbst färbten sich die Stachelbüschel
tatsächlich goldbraun, und im Winter erstarrten sie und überzogen sich mit
einer eisigen Kruste. Dann schimmerte das ganze Land in einer transparenten
bläulichen Farbe.
Ein Piepton unterbricht ihre Betrachtungen. Sie eilt zum
Kommandopult hinüber. Eine grüne Diode leuchtet auf. "Aha! Terra
bestätigt!" Die Daten waren angekommen. Dann summt der Info-Dienst. Der
Bildschirm füllt sich mit Skalen und Texten. "Weiß ich, weiß ich, weiß
ich! Immer wieder dieselben Daten über Alfol. Umfang, Masse, Bevölkerung
…"
Plötzlich erscheint ein Messenger-Fenster und überlagert die
Tortengrafiken und die Tabellen. "Aha, schon interessanter!"
Lieber Nique-Mensch, sei Du uns willkommen auf Alfol. Wir
erwarten Dich mit Freuden und Deine Botschaft von Terra. Dein Landepunkt sollte
Dufis sein. Peile 7,4/6.00 an. Die Sonnen sind gerade aufgegangen. Du würdest
sagen: Früh am Morgen! Von uns wird aber niemand anwesend sein. Du wirst Dir
schon zu helfen wissen."
"War ja auch nicht anders zu erwarten!" Nique
lehnt sich zurück. "Feiertag? Sind die alle drüben auf der Zitadelle? Oder
tritt etwas ein, das die schon wissen und glauben, dass ich es auch weiß. Wäre
typisch für das Volk."
Sie holt sich die Karte vom Landeplatz auf den Schirm und
gibt die Koordinaten ein. "Mein Gott, der Platz befindet sich direkt am
Meer. Die totale Ebene! Soll ich meinen Gleiter einbuddeln? Was denken die? Der
wird doch in der Nacht weggepustet …!"
Sie schickte sofort eine Nachricht nach Alfol: Erbitte
Situationsbeschreibung von "7,4/6.00". Nach etwa fünf Minuten erfolgt
die Antwort:
"Der Gleiter ist nicht das Problem. Freuden auf
Alfol!"
"Das passt nicht zusammen", denkt Nique.
"Weitere Anfragen sind überflüssig." Sie zögert für einen Augenblick,
dann beschließt sie, den angegebenen Landeplatz anzusteuern. Dort wird sie
entscheiden, wohin sie den Gleiter in eine sichere Position manövrieren wird.
Es gibt Probleme auf Alfol. Das ist ihr jetzt klar. Das
Kommunikationsmuster stimmt nicht, jedenfalls nicht so, wie sie es in den
Jahren zuvor gewohnt war.
"Gegenprobe! Mach' einfach eine Gegenprobe!" Sie
tippt folgende Nachricht in das Messenger-Fenster:
"Vertragsunterlagen eingetroffen?"
Die Rückmeldung erfolgt fast im
selben Augenblick, so als ob die Alfolianer mit dieser Frage gerechnet hätten:
"Mit allem einverstanden. Freuen uns auf den Festakt
der Unterzeichnung!"
"Verdammt! Hier ist etwas schief gelaufen. Warum bin
ich hier, wenn die Alfolianer mit allem einverstanden sind? Das mit dem Festakt
ist doch ein Witz!"
Böse Ahnungen steigen in ihr auf. "Ist mit diesen
merkwürdigen Aussagen eine Botschaft verborgen, die ich nicht verstehe, aber
unbedingt verstehen sollte? Hier braut sich doch etwas zusammen, und ich bin
außen vor."
Mit fliegenden Fingern sausen ihre Hände über die Tasten. Der
Bildschirm gibt eine tröstliche Meldung aus. "OK! 75 Minuten. Dann muss
ich entscheiden: Umlaufbahn oder sofortiger Rückflug! Zeit genug, um den
Planten und sein atmosphärisches Umfeld auf Info-Bewegungen abzuscannen!"
Nach wenigen Minuten konnte sie auch diese Option abhaken.
Keine nennenswerten Info-Flüsse, die sie als bedeutsam einstuft – abgesehen von
den üblichen Alfol-Nachrichten, die nicht zu dekodieren sind. Restrisiko!
"Fliehen oder standhalten? Mein Gott, Nique! Fass'
einen Entschluss!"
Das Blinken und Funkeln von Alfol bricht sich in den
Aussichtsfenstern. "Ein Tanz durch die farbigen Lichtreflexe steht wieder
einmal bevor", denkt Nique. "Nur noch wenige Stunden, dann bin ich
umgeben von den fliegenden Farbflecken der eigenwilligen Vegetation." Ihr
Entschluss ist gefasst. "Ab nach Alfol, und den Stier bei den Hörnern
gepackt!"
Mit einem zischenden Geräusch öffnen sich die Lifttüren zur
Gleiterebene. Nique steuert den Alpha 6 an, das vertrauteste Gerät, ein Ei mit
Kufen, wie bei einem Helikopter. Mit einem scharfen Schnalzen der Zunge öffnet
sich die Kapsel. Sie zieht den Skaphander heraus und trägt ihn zur
Check-Station. Dann begibt sie sich zu ihrem Wunder-Ei, schwingt sich in die
Liege und beginnt mit der Überprüfung der Systeme. Das dauert etwa zwei
Stunden. Danach begibt sie sich in die Kommandostation und übermittelt die
Daten der Umlaufbahn an die Alutec-Zentrale.
Ein letzter Rundgang, ein letzter Check. "Liebes
Schiffchen, nun sei brav und warte auf mich!" Herzklopfen. Der Lift zur
Gleiterebene steht bereit. Die Türen schließen sich nach wenigen Sekunden wird
sie ihr Flug-Ei erreicht haben. Vor dem Skaphander verharrt sie die
obligatorischen fünf Minuten, symbolische Minuten, um sicher zu sein, dass sie
keine last-minute-information von Terra versäumt. Grinsend steigt sie in das
Raumanzugsgerät und verschließt den Helm, wohl wissend, dass in diesem
Augenblick eine Nachricht kommen könnte, deren Meldung sie mit dem Verschluss
des Skaphanders nicht mehr erreichen würde – erst wieder unten auf Alfol.
In der Tat, kurz nachdem Nique ihren Gleiter bestiegen hat,
und während sie auf die Schleuse zuhält, flackert eine Nachricht von der
Alutec-Zentrale auf dem Bildschirm in der Kommandozentrale auf: "Militärische
Operationen auf Alfol! Bleibe im Schiff! Wir warten auf weitere Infos.
Möglicherweise Abbruch der Mission!"
Diese Nachricht wird Nique erst nach der Landung des
Gleiters auf Alfol zur Kenntnis nehmen können.
"Verdammt! Sie antwortet nicht." Scheuter tigert
durch sein Büro. "Sie müsste antworten. Oder ist sie schon im Gleiter
unterwegs zum Planeten?" Hastig öffnet er die Tür, um sich auf den Weg zur
Info-Zentrale zu machen. "Das Zeitfenster. Das wird doch alles zu
knapp."
"Hallo Scheuter!" Unvermittelt steht Bonelli vor
ihm.
"Was ist los, Bonelli! Ich habe es eilig!"
"Alfol! Scheuter, Sie spielen die Alfol-Karte, obwohl
Sie wissen, was dort gerade seinen gefährlichen Anfang nimmt!"
Scheuter verlangsamt seine Schritte, passiert aber dennoch
Bonnelli, bleibt dann stehen und dreht sich langsam um.
"Bonelli, lassen Sie das meine Sorge sein!"
"Ihre Sorgen?" Der Angesprochene lacht kurz auf.
"Das sind die Sorgen der Firma!"
Dann macht Bonelli ein paar Schritte auf Scheuter zu, der
Mühe hat, sein Unbehagen zu verbergen. "Wir wissen nicht, was das mit
diesem Shimbali-Alfol-Mix soll. Das kann nicht funktionieren, es sei denn, Sie
greifen zu unredlichen Mitteln."
"Bonelli. Jetzt mal langsam. Wir befinden uns mitten im
Geschäft. Und das läuft!" Er will sich abwenden, doch Bonelli hält ihn
zurück.
"Scheuter, wir haben in Erfahrung gebracht, dass
Shimbali militärische Aktionen auf Alfol vorbereitet. Vielleicht kennen Sie die
Gründe!"
"Sie machen sich lächerlich, Bonelli!"
"Meinen Sie?" Und nachdrücklich: "Wir haben
Kontakt mit Dom Levidor aufgenommen … " Scheuter unterbricht ihn.
"Bonelli, das riecht nach Putsch!"
"Nicht wenn sich die Vorstands-Mehrheit für meine
Variante entscheidet. Und die ist jetzt hoch aktuell." Und etwas leiser:
"Ich würde sogar sagen, erste Priorität!"
Mit heiserer Stimme erwidert Scheuter: "Hören Sie,
Bonelli. Sie quatschen sich gerade um Kopf und Kragen!"
"Ich denke nicht, Scheuter. Ich denke vielmehr, dass
Sie schon längst ihren Kopf verloren haben. Sie wissen es nur noch nicht!"
Empört macht Scheuter einen Schritt rückwärts, holt Luft und
…
"Warten Sie Scheuter! Sie sollten eines wissen: Dom
Levidor ist in einer diplomatischen Mission unterwegs nach Alfol – vielleicht
ist der Diplomat bereits angekommen." Und nach einer Pause: "Ach, was
macht unsere kleine Sternenfrau, Nique? Schon auf Alfol gelandet?"
Mit dieser Frage lässt Bonelli seinen Kollegen stehen, der
konsterniert vor sich hinschaut, langsam den Kopf schüttelt und mit wankenden
Schritten sein Büro aufsucht.
"Ja, meine kleine Nique. Wo treibst du dich gerade
herum? Hoffentlich sitzt du nicht schon im Gleiter.
Doch, die kleine Sternenfrau konzentriert sich auf die
Instrumente in ihrem Gleiter und steuert auf die Atmosphäre von Alfol zu. Sie
weiß weder etwas von einer diplomatischen Mission der Doms noch von
militärischen Operationen auf dem Planeten. Ein leichtes Schütteln signalisiert
ihr das Eintauchen in die Atmosphäre. Wie eine bunt schillernde Leuchtkugel
treibt Alfol auf sie zu.
"Wenn alles nicht so verdammt ungewiss wäre, könnte ich
den Anflug genießen. Statt dessen bedrücken mich böse Vorahnungen." Nique
bereitet sich auf die Landung im angegebenen Planquadrat zu. Plötzlich meldet
der Transponder Flugbewegungen, die ihren Kurs kreuzen. Sofort gibt sie
Koordinaten für eine weite Schleife ein. Alfol kippt ab. Der Schirm meldet ihr
drei Fluggeräte und identifiziert sie als zwei Jäger und einen Gleiter.
"Was haben wir hier? Das ist doch nicht die
Möglichkeit". Ihr stockt der Atem. "Zwei Shimbalesen jagen einen Dom
Levidor-Gleiter? Ich glaube …" Ein weißes Band, das sich zu einem breit
gefächerten Wedel entfaltet, steigt auf. Die Shimbalesen drehen ab.
"Und nun bin ich dran, oder? Die haben mich doch längst
entdeckt." Eiseskälte macht sich in ihren Eingeweiden breit. Doch die
beiden Jäger entfernen sich und sind nach wenigen Sekunden vom Bildschirm
verschwunden.
"Die funken mich nicht einmal an." Nach kurzem
Zögern geht Nique wieder auf ihren alten Landekurs. Kurz vor dem Anflug meldet
der Transponder Notrufsignale. "Das müsste vom Dom-Gleiter kommen. Ok! Ich
kümmere mich darum. Vielleicht bekomme ich als erstes menschliches Wesen einen
Dom zu Gesicht."
Die Absturzstelle liegt abseits im Küstengebirge. Schnell
hat Nique einen Landeplatz in der Nähe des havarierten Gleiters ausgemacht.
"Nicht optimal, aber das bekommen wir hin. Fragt sich nur, wie es dann
weitergeht."
In einem eleganten und für den neben seinem Wrack stehenden
Dom beeindruckenden Bogen schwebt Nique heran, verringert fast bis zum Stillstand
die Geschwindigkeit, aktiviert den Anti-Grav-Accelerator und senkt sich langsam
zu Boden. Eine Sandwolke wirbelt auf, und kurz nachdem sie gelandet ist, steht
die junge Frau bereits vor ihrem Gefährt und schaut hinüber zu dem
Dom-Fahrzeug. Grüßend hebt sie den Arm und macht sich auf den Weg. Die
Temperatur-, Luftfeuchtigkeits- und Sauerstoffanzeigen in ihrem Helm zeigen
optimale Werte, so dass sie beherzt nach wenigen Schritten die Glaskuppel vom
Skaphander schraubt und sie keck unter den Arm klemmt.
"Eine bessere Ankunft hätte ich mir jedenfalls nicht
vorstellen können."
Lächelnd und mit sich zufrieden, geht sie auf den Dom zu,
der noch vollständig in seinem Raumanzug steckt. Jetzt erst bemerkt sie, dass
er oder sie sich krampfhaft am kurzen Flügel des Gleiters festhält.
"Ist er verletzt?" Sie macht einen Schritt auf die
Gestalt zu und streckt den Arm aus. Keine Bewegung, keine Geste. Noch ein
Schritt, und sie befindet sich unmittelbar vor dem Helm. Dann vernimmt sie
einen Ton, und plötzlich entsteht ein Satz in ihrem Kopf: "Menschliche
Rasse von Terra. Ihr müsst mich verstehen?" Erschrocken fährt sie zurück.
Dann nickt sie. "Der hat in meinen Kopf hineingesprochen." Was soll
ich entgegnen – und wie. Soll ich sprechen?
"Hallo. Terra-Bewohner. Menschliche Rasse. Mein Name:
Nique!"
Die Antwort kommt unvermittelt: "Eine bessere Ankunft
hätte ich mir jedenfalls nicht vorstellen können. Ist er verletzt?"
"Was soll das? Mein Gott, der kann meine Gedanken
lesen. Ist es überhaupt ein Er?"
Die Gestalt hebt den Arm: "Ist es überhaupt ein
Er?"
Unschlüssig verharrt Nique, doch dann: "Kann ich euren
Helm lösen?"
"Kann ich euren Helm lösen?" so die Antwort. Und
wieder hebt er den Arm. Sie geht wieder auf den Dom zu, inspiziert die
Befestigung zwischen Anzug und Helm, findet einen Mechanismus, drückt zwei
Knöpfe und öffnet eine Schnalle. Ein leises Zischen ist zu vernehmen. Dann hebt
sie sachte den Helm in die Höhe. Ein blutverkrustetes Gesicht starrt sie an,
ein menschliches Gesicht. Die Augen, von einem strahlenden Blau, sind fest auf
sie geheftet. Langsam wandern die Pupillen zur Seite. Der Arm senkt sich und
bewegt sich allmählich hinter seinen Rücken.
Nique weiß, was sie zu tun hat. Sie umfasst die Gestalt und
lässt sie langsam zu Boden gleiten und bettet sie in den weichen ockerfarbenen
Sand. Dann springt sie flink zu ihrem
Gleiter herüber, um die Medizin-Box zu holen.
"Nehmen wir einmal an, der Organismus ist dem unsrigen
ähnlich". Mit flinken Handgriffen hat sie eine Sonde in seinen Mund
geführt. "Erhöhte Temperatur, niedriger Blutdruck und regelmäßige
Herzschläge. Sie nestelt eine Spritze hervor und
verabreicht ihm eine Dosis in die Zunge. "Gleich müsste
es besser gehen." Dann greift sie zu einem antiseptischen Tuch und reibt
sein Gesicht ab. "Nun siehst du auch besser aus. Mein Gott, du siehst
hervorragend aus. Ich würde sagen: Werkstatt des Raffael, wenn nicht der
Meister selbst Hand angelegt hätte!"
"Mein Gott, du siehst hervorragend aus." Ein
Lächeln gleitet über sein Gesicht. Dann öffnet er die Lippen und ganz leise:
"Mein Gott, du siehst hervorragend aus."
Nique deutet mit ihrem Zeigefinger auf ihre Nase. Er nickt.
"Dann sind wir uns einig!" Sie seufzt auf. "Kannst Du die
Sprache der Terraner?"
"Konnten wir mal!"
"Ok! Bist du verletzt?"
"Nicht mehr!"
"Welches Problem müssen wir lösen?"
"Big Problem!"
"Hast du eine Lösung?"
"Zeitsprung rückwärts. 24 Stunden Terrazeit."
"Fünfte Dimension ist nicht! Wir Terraner…"
"Doch, doch!"
Mittlerweile hat sich der Dom erhoben. Eine stattliche Gestalt.
Er wankt noch, doch bald hat er seinen Körper unter Kontrolle. Er macht ein
paar Schritte vor und wieder zurück, atmet tief durch und lässt den Kopf
kreisen.
"Shimbalesen setzen Alfol unter Druck. Kein Alutec von
Terra! Müssen wir verhindern! Alfolianer auf der Zitadelle. Keine
Landemöglichkeit für Gleiter. Passage zur Zitadelle 3 Stunden. Shimbalesen
schon dort. Wollen Konferenz manipulieren. Wir vor Konferenz dort. Vorher
dort!"
Und bevor Nique etwas entgegnen kann, kommt es vom Dom:
"Zeitsprung minus 24!"
"Aber dann haben sie dich doch noch gar nicht
abgeschossen, wenn wir jetzt vor 24 Stunden losrödeln!"
Er lacht: "Parallelzeit. Ist sich 5. Dimension!"
Mit unsicheren Schritten geht er zum Einstieg seines
Gleiters und bringt nach wenigen Augenblicken einen kleinen rosa Kasten hervor.
Er öffnet ihn, entnimmt einem winzigen Gestellt zwei Sonden und reicht eines
Nique. Das andere befestigt er an seinen Hals. "Ist organischer Vorgang.
Werde dich für ein paar Sekunden betäuben." Er drückt Nique die Sonde an
die Hauptschlagader und greift an ihren Nacken. Plötzlich hält er inne und
blickt erschrocken über ihren Kopf hinweg auf die ferne Bergkette, die das Meer
von der Ebene trennt. Eine Staubwolke steigt in die Höhe.
"Shimbalesen! Sie nähern sich mit Landfahrzeugen!
Offensichtlich sind sie auf der Suche nach mir! Es wird Zeit!"
Mit einem leichten Druck auf einen Halswirbel versetzt er
Nique in eine tiefe Ohnmacht. Dann greift er in das rosa Kästchen und legt
einen Schalter langsam um. Ein kurzes Rütteln beider Körper. Nique erwacht und
schaut sich staunend um. Der Platz ist leer. Nicht einmal Fußspuren im Sand
sind zu bemerken.
"Wo sind unsere Gleiter?" entfährt es Nique. Der
Dom grinst: "Im Parallelraum – gerade vor uns. Nur nicht sichtbar. Jetzt
aber auf zur Zitadelle!" Beide greifen zu ihren Helmen, setzen sie auf und
verschließen sie. Dann aktivieren sie die Antriebsaggregate ihrer Anzüge,
lassen sich leicht anheben, schwenken in eine bequeme Sitz-Liegehaltung und
düsen ab mit den Beinen voran.
Mittlerweile ist es Abend geworden. Das irrlichternde
Farbenspiel verblasst allmählich. Erste düstere Wolken ziehen herauf, und ein
kühler Wind bläst über das Meer. Über den fernen Horizont drücken dunkle Wolken
in den ockerfarbenen Zenit. Von der Zitadelle ist natürlich noch nichts zu
sehen, die bereits weit hinter der Kimm ins unvermeidliche Dunkel der
Alfol-Nacht herabgesunken ist. Gerade sind die beiden Sonnen dabei, sich zu
verabschieden. Ganz langsam. Die Dämmerung scheint zu verharren, um den kaleidoskopartigen
Farbreflexen Raum und Zeit zur Entfaltung zu geben. Was für ein Spiel der
Farben, was für eine Choreographie der Stimmungen!
Die beiden Raumfahrer haben schon längst das Meer erreicht. Ob
sie die unvergleichlichen Alfol-Stimmungen, diese so von Empfindungen
gesättigte Atmosphäre, verspürt haben?
In einer Höhe von etwa zehn Metern gleiten sie über der wild
bewegten See hinweg. Das obligatorische nächtlicher Unwetter, ohne den der
Planet nicht leben kann, setzt sich in Szene, um die unverdrossenen Passagieren
energisch von ihrem Vorhaben abzubringen. Doch Nique kennt die atmosphärischen
Gewalttaten der Nacht und weiß darauf zu reagieren – technisch zu reagieren. Immer
wieder werden sie von Windböen geschüttelt. Ihr eben noch so steter Flug ist in
einen Schlingerkurs geraten. Damit hatte Nique gerechnet und ihr System
entsprechend eingestellt. Ob ihr Begleiter über ein ähnliches atmosphärisches
Ausgleichsystem verfügte?
Blitze zucken herab und stechen in die aufgewühlten See.
Fernes Donnergrollen. Das Wetter nimmt ruppige Züge an.
"Es wird noch schlimmer!" lässt sich Nique über
das Kommunikationssystem vernehmen. "Vermutlich", antwortet der Dom.
"Wie heißt du eigentlich?"
"Raf! Dein Name ist Nique von Terra, zur Zeit in
diplomatischen Diensten von Alutec."
Nique zögert einen Augenblick:"Die
Gedankenkommunikation scheint zu klappen." Und nach einer einem Augenblick:
"Kannst du alle meine Gedanken lesen?"
"Nein, nur die Gedanken, die an mich gerichtet
sind!"
Nique grinst: "Glauben wir's mal."
"Wir Dom-Levidorianer sind sehr diskret – eben wegen
dieser Eigenschaft, die Gedanken von anderen Menschen lesen zu können."
"Ihr Doms! Ihr seid also Menschen!"
Niques Frage, die ihr urplötzlich herausgeschossen kam,
bleibt unbeantwortet. Der Dom antwortet nicht. Wahrscheinlich verzieht er sein
Gesicht, denkt sie. Sie atmet tief durch. Vielleicht ist es besser, ich gehe
auf Sendepause.
Einträglich sausen die beiden Astronauten in sicherer
Entfernung über das aufgewühlte Meer ihrem Ziel entgegen. Mittlerweile hat sich
die Nacht wie eine schwarze Glocke über den Ozean gesenkt. Hoch schäumen die
Wellen auf. Ein mittlerer Sturm hat sich entfacht, und die Blitze zucken immer
häufiger vom Himmel herab.
Nique und Raf schlingern über das Meer. Ihre Geschwindigkeit
hat nur geringfügig abgenommen. Das Pilotsystem im Helm weist ihnen den Weg zur
mittleren Ebene der Zitadelle, wo sie die Ankunft der Shimbalesen vermuten.
Noch etwa drei Stunden Flug, dann haben sie ihr Ziel erreicht.
"Was ist deine Mission?" Rafs Frage lässt Nique
aus ihrem Dämmerzustand hochschrecken. Sie weiß, dass sie eine klare Antwort
geben muss, um ihrerseits die Aufgabe des Dom Levidorianers auf Alfol zu
erfahren.
"Ich beabsichtige für Alutec/Terra einen Handelsvertrag
auf die Beine zu stellen."
"Es geht um neuntausend Tonnen Alutec!"
Nique war nicht einmal erstaunt über die Kenntnis von Raf.
Ganz im Gegenteil: Warum sollte ein Dom-Levidorianer nach Alfol kommen, wenn
nicht in irgendeiner Angelegenheit, die mit Alutec zu tun hat. Zumal, folgert
sie schnell, die Shimbalesen in einer offensichtlich unerquicklichen Weise
involviert waren. Fragt sich nur, was die Shimbalesen auf Alfol treiben. Das
Alarmierende: Sie haben einen Dom-Levidorianer abgeschossen… Nique bleibe cool
und antworte unverzüglich:
"Genau! Neuntausend Tonnen!" Und nach einer kurzen
Pause: "Das ist mein Job. Ich muss den Vertrag spezifizieren und im Namen
von Alutec/Terra unterzeichnen."
Stille.
"Ich bin hier", lässt sich Raf vernehmen, "um
die Logistik unserer Dienstleistungen hinsichtlich der alfolianischen
Infrastruktur im Verkehrswesen aufzubauen. Mit anderen Worten: Wir schicken
Ingenieure, Techniker und Arbeiter … ein lukratives Geschäft." Er räuspert
sich und fügt mit heiserer Stimme hinzu: "Ein lukratives Geschäft erhofften
wir uns, nachdem wir in Erfahrung gebracht hatten, dass Terra neuntausend
Tonnen Alutec an Alfol liefern wird."
Nique beisst die Zähne zusammen. Die blitz-durchzuckten
Windböen schleudern die beiden Passagiere durch die Luft.
"Wir werden den Gravi-Antrieb beschleunigen und unsere
Geschwindigkeit verringern müssen." Rafs Stimme klingt beruhigend.
"Reicht unsere Pre-Time?" Nique ist besorgt, denn
sie kennt sich in der Zeit-Manipulation nicht aus.
"Keine Sorge!" schnarrt Raf durch den Kommunikator.
"Der Zeitverlust ist gering. Wir werden Alfol erreichen, unsere Mission
durchführen und pünktlich am Gleiter eintreffen, bevor die Shimbalesen - aus
welchen Gründen auch immer – mit ihren Landfahrzeugen uns erreicht haben."
"Das Problem ist Shimbali … "
"Nein, liebe Nique" unterbricht sie Raf. "Das
Problem ist Terra!"
Genau zu diesem Zeitpunkt meldet das Kontrollsystem auf
Alfol die Ankunft des terrestrischen Raumschiffs und den Abschuss des
Dom-Gleiters. Fast gleichzeitig erfahren die Alfolianer vom Angriff der
Shimbalesen auf die Zitadelle. Es werden geringe Schäden gemeldet. Das scheint
weder die Bewohner noch die leitenden Ingenieure oder die Vertreter der
Führungskaste zu beeindrucken, schon gar nicht zu verunsichern. Die Alfolianer
sind lediglich betrübt, dass sich der Lauf der Dinge nicht erwartungsgemäß
vollzieht.
Im Kontrollzentrum, in dem ein bewaffneter Shimbalese Posten
bezogen hat, konzentriert man sich auf die Beobachtung der Flugdaten des
Schiffs von Terra.
"Welchen Landeplatz sollen wir für Master Nique
vorsehen?" Der Alfolianer wendet sich an den Shimbalesen, der unwirsch
zurückgibt:
"Den schlechtesten. Weit ab von der
Meeressiedlung!"
Ein Detail bleibt allerdings unbemerkt, die kaum
auszumachenden Flugbewegungen in unmittelbarer Nähe der Zitadelle. Vielleicht
hat ein Alfolianer die Daten auf dem Bildschirm bemerkt und ihnen keine
Beachtung geschenkt, sei es, dass er sie auf Shimbalesen oder auf eigene Leute
bezogen hat.
Im Kongresssaal des Kapitols werden gerade die letzten Vorbereitungen
für den Empfang der Shimbalesischen Abordnung getroffen.
"Wann erwarten wir die Terranerin?" Kas, der
Protokollführer, beugt sich zu seinem Kollegen herüber, der ihn mit trüben
Augen anblickt. "Wenn hier alles vorbei ist", antwortet er. Die Shimbalesen
werden uns zur Abgabe der Alutec-Lieferung mehr oder weniger nötigen."
Kas richtet sich auf. "Auch gut! Hauptsache egal!"
Damit war das Gespräch beendet, und die beiden machen sich an die Arbeit, die
Translations-Module zu installieren. Plötzlich kommt ein Alfolianer
hereingestakst, gefolgt von einem Shimbalesen, der aufgeregt mit seinem Laser
fuchtelt. Beide halten auf Kas und seinen Kollegen zu. Mit seinem bärbeißigen
Mopsgesicht baut sich der kleinwüchsige Shimbalese vor dem Alfolianer auf:
"Da fliegt was ran. Und das kennen wir nicht. Wen
erwartet ihr?"
Das Translationssystem bedarf noch einer Feinabstimmung,
denkt Kas und antwortet, einer plötzlichen Eingebung folgend:
"Die Abordnungen von Terra und Dom Levidor, wen sonst,
verehrter Shimbalese!"
"Das verhindern müssen. Gleich. Scharf!" Der Mops
läuft rot an und rasselt eine Nachricht in sein Mikrophon.
"Casus belli!" Gibt Kas trocken zurück, so als ob
er wüsste, was der Shimbalese seiner Einheit gemeldet hat. Der schaut ihn
verständnislos an, schüttelt sich und macht sich mit seinen flinken Beinen
davon.
Kas und sein Kollege schauen einander in die Augen. Sie
grinsen – zumindest müsste ihr Gesichtsausdruck in dieser Richtung gedeutet
werden.
Der Sturm hat nachgelassen. Mehr noch - ein sanft-seidenes
Lüftchen weht über dem Ozean. Der schwarze Himmelsvorhang senkt sich und auf
steigen die beiden Sonnen vor einem rötlichen Band, das, je mehr es an Höhe
gewinnt, sich türkisblau und weiter oben dunkelblau färbt. Die ferne Zitadelle
erstrahlt in funkelnden Goldtönen. Schon bald sind Terrassen, Treppen, Zinnen
und Kuppeln, sowie Paläste mit hohen schlanken Portiken auszumachen.
Nique und Raf haben nur noch eine kurze Distanz
zurückzulegen. Fast gleichzeitig brummt ein Signal in ihren Kopfhörern. Es
folgt die Aufforderung, den Erkennungscode anzugeben. So als ob er darauf
gewartet hätte, antwortet Raf und fragt nach den Landekoordinaten.
"Unmittelbar vor dem Kapitol!" Raf lacht.
"Die wissen, warum sie uns dort landen lassen", gibt Nique erleichtert
zurück.
Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, schießen zwei Gleiter
auf die beiden zu.
"Shimbalesen!" raunt es von Raf herüber.
"Keine Chance. Die wollen uns einschüchtern! Egal, wir
halten Kurs auf's Kapitol!" Nique ist sich ihrer Sache sicher. "Wir
lassen uns nicht abdrängen", meldet sie Raf.
Doch das Tänzchen hat bereits begonnen. Die Shimbalesen
versuchen, die beiden Personen in eine andere Richtung zu drängen, doch die
Wendemöglichkeiten ihrer Gleiter sind völlig untauglich. Raf und Nique machen
sich einen Spaß daraus, immer wieder über oder unter die Gleiter zu hüpfen,
indem sie virtuos mit den Gravitations- und Antriebsaggregaten spielen. Bald
sind es die Shimbalesen leid, an diesem Spiel teilzunehmen. Außerdem müssen sie
befürchten, mit den fliegenden Personen zu kollidieren und diese zu verletzen
oder sogar zum Absturz zu bringen. Das könnte ihre Mission gefährden und ungeahnte
diplomatische Verwicklungen nach sich ziehen. Sie verschwinden in Richtung
Zitadelle.
Nique und Raf erreichen die Terrasse vor dem Kapitol. Leichtfüßig
setzen sie auf und nehmen, nachdem sie die Atmosphäre überprüft haben, ihre
Helme ab. Der Platz ist belebt. Zahlreiche bewaffnete Shimbalesen haben wohl
schon seit längerer Zeit Posten bezogen. Nique muss bei ihrem Anblick an sich
halten. Obwohl ihr das Aussehen der Shimbalesen von Abbildungen her bekannt war
– gedrungene menschenähnliche Körper mit einem Kopf eines Mopses – war sie
dennoch überrascht von diesen urkomischen Montage-Karikaturen. Ihre Bewegungen
waren nicht nur tapsig, sondern ungelenk und ohne jede Harmonie – zumindest
nach menschlichem Ermessen. Dagegen nehmen sich die beiden Alfolianer, die zur
Begrüßung auf sie zukommen, geradezu majestätisch aus.
"Mein Name ist Kas. Ich bin der Protokollführer."
Dann wendet er sich würdevoll zu seinem Begleiter, verneigt sich und: "Ich
möchte Ihnen Los vorstellen, den derzeitigen Chef des Rats von Alfol." Der
weiß gewandete Los, der einzige Alfolianer, der Kleidung tragen darf, trägt in
seiner Armbeuge ein kleines Wollbüschel mit winzigen Knopfaugen und einem
Igel-ähnlichen Mini-Rüssel.
"Das ist ein Trans", raunt Nique ihrem Begleiter
zu. Der lächelt. Dann verneigen sich beide vor den Alfolianern. "Das
Translationssystem ist perfekt geeicht – zumindest für unsere Sprachen",
denkt Nique. Bevor sie den Gruß erwidern kann, setzt Kas ein weiteres Mal an:
"Wir sind irritiert und zugleich erfreut, verehrte
Nique, dass wir Sie zu diesem Zeitpunkt vor dem Kapitol begrüßen können."
Dann wendet er sich Raf zu. "Ich hörte von dem
unglücklichen Vorfall eines Ihrer Raumschiffe …"
Raf unterbricht ihn. "In der Tat. Ein unglücklichr
Vorfall! Lassen Sie uns bitte ins Kapitol gehen und sofort mit den
Verhandlungen beginnen, da durch diesen Vorfall unser Zeitfenster minimiert worden
ist."
Während sie die Treppen zum Portal besteigen, lässt Raf mit
einem Seitenblick auf die Shimbalesen beiläufig fallen: "Befindet sich
Alfol im Kriegszustand?"
"Oh nein!" kommt es sogleich zurück. "Es hat
eben auch auf Alfol Vorfälle gegeben."
Raf nickt und lächelt. "Shimbalesen-Vorfälle sollte
wohl nicht allzu ernst genommen werden!"
"Nun ja! Wenn Dom Levidor im Spiel ist, dann steht
Shimbali in der zweiten Reihe."
"Vielleicht sogar in der dritten", ergänzt Nique
keck. Ein Augenzwinkern von Kas ermuntert sie für die unmittelbar bevorstehende
Verhandlung.
Sie betreten den hell erleuchteten Saal, der mit Protokollanten,
Technikern, Assistenten und den Verhandlungspartnern angefüllt ist. Im Zentrum
unterhalb eines bläulich schimmernden Leuchters nimmt die Abordnung der vier
Planeten an einem ovalen Tisch Platz.
Los erhebt sich und stellt die Partner vor. Zwei
Shimbalesen, offensichtlich nervös und unsicher – sie schlecken ununterbrochen
mit ihren langen Zungen über den breiten Mund – grüßen devot. Ihre Namen werden
mit Besit und Tesab angegeben.
Los beginnt unverzüglich: "Es gibt nur einen Punkt, den
es zu klären gilt. Ich führe aus: Mit Terra haben wir Vorverträge geschlossen
über 9000 Tonnen Alutec. Mit Dom Levidor haben wir Vorverträge geschlossen über
logistische Dienstleistungen. Diese Verträge stehen heute zur Unterzeichnung
an."
Er hält inne und wendet sich langsam den beiden Shimbalesen
zu: "Shimbali hat Einspruch erhoben, indem es von uns fordert, dass wir
ihnen die Alutec-Lieferung bis auf 2000 Tonnen überlassen."
Stille. Los hält unverwandt seinen Blick auf die Shimbalesen
gerichtet. Dann kommt es ganz leise: "Ich bitte die Vertreter von
Shimbali, ihre Forderung zu begründen."
In diesem Augenblick erhebt sich Raf, wendet sich ebenfalls
an die Shimbalesen und: "Ich bitte die Vertreter von Shimbali, den
Abschuss eines Gleiters von Dom Levidor zu begründen."
Nique, der ein Platz neben den Shimbalesen zugewiesen wurde,
hat sich während der Worte von Raf ebenfall erhoben, tritt hinter das Mops-Paar,
das sich, so scheint es, in sich selbst verkriechen wollte, und lässt ihre
helle klare Stimme unter der Kuppel ertönen.
"Auch ich bitte die Vertreter von Shimbali um eine
Erklärung: Was hat es mit dem kürzlichen aggressiven Luftangriff auf die Zitadelle
von Alfol auf sich?"
Raf stöhnt auf. Ein Shimbalese schießt in die Höhe:
"Nicht hierher gehört das. Schluss!"
"Oh doch!" gibt Nique, die ihren Platz nicht
verlassen hat, zurück. "Da Alutec-Terra auch an Shimbali liefern möchte,
kann unsere Firma das nur, wenn sie sicher ist, dass zwischen beiden Parteien,
Alfol und Shimbali, keine militärischen Spannungen bestehen."
"Ha!" schreit es aus Besit heraus. "Ha! Wir
haben Mitteilung von Terra-Alutec, dass die Alutec-Lieferung erfolgt in
Verbindung mit ziviler und militärischer Beratung. Dies- und letztbezüglich
Pläne von Terra erhalten. Ausgezeichnete Logistik!"
Nique erblasst. Ihre Knie geben nach. Sie setzt sich und
starrt vor sich hin. Scheuter, Du verdammtes Schwein!
Besit bleibt stehen und blickt triumphierend in die Runde,
ohne offensichtlich zu ahnen, dass er sich mit der Lunte am Pulverfass befindet.
Los hat sich erneut erhoben und versucht zu beschwichtigen:
"Nun gilt es, verehrter Shimbalese, die anderen drei Gründe zu erörtern:
Angriff auf unsere Zitadelle, Abschuss eines Gleiters von Dom Levidor und
Einforderung der Alutec-Lieferung von Alfol."
Besit hat an Selbstvertrauen gewonnen. Die Zunge bleibt im
Maul, denkt Nique, doch meine Mission dürfte hiermit gescheitert sein. Gedanken
jagen durch ihren Kopf. Sie beisst die Zähne zusammen. Verwirrspiel. Was für
peinliche Fragen habe ich jetzt zu erwarten? Sie spürt die Blicke von Los und
Raf in ihrem Nacken.
Unterdessen hat Besit triumphierend den Arm in die Höhe
gestreckt. Seine kugelrunden braunen Augen rollen wild.
"Lässt sich einfach erklären. Alles! Bedauerlicher
Zwischenfall mit Gleiter. War ein Versehen! Eine Land-Mission ist unterwegs, um
Hilfe zu leisten. Entschuldigung an Dom Levidor. Ebenfalls bedauerlich das mit
Angriff auf Zitadelle. Ach! Dummes Versehen. Entschuldigung an Alfol. Schaden
wird behoben."
Zwei Mal verneigte er sich. Dann wendet er seinen Kopf etwas
zur Seite und lispelt scheinheilig: "Nix Einforderung. Doch nur
Geschäft." Er lächelt - verflucht breit.
"Geschäft mit Nachdruck. Wollen mehr Alutec für
Shimbali, und aufkaufen für guten Preis von Alfol."
Raf hat sich erhoben, und mit eisiger Stimme richtet er
seine Worte an Besit:
"Dom Levidor sind die Gründe für die großen Mengen
Alutec, die Shimbali benötigt, bekannt." Und nach einer Pause:
"Shimbali rüstet gegen Dom Levidor auf!"
Dann blickt er Nique in die Augen: "Ist Terra an diesem
Deal beteiligt?"
"Nein!" Nique bleibt sitzen und holt tief Luft:
"Nein. Terra ist nicht beteiligt. Alutec geht es um Macht und Geld ..."
"Macht, Geld, Waffen, Krieg!" unterbricht Raf
ungehalten. Doch Nique lässt sich nicht beirren.
"Tatsache ist", fährt sie fort, "dass Alfol
von den 9000 Tonnen zunächst nur 2000 Tonnen erhält. Der Rest geht an Shimbali.
Wir haben sowohl Shimbali als auch Alfol 9000 Tonnen zugesagt, sind aber außer
Stande, diese Mengen zu fördern. Aus diesem Grunde soll Alfol zunächst 2000
Tonnen erhalten und Shimbali die restliche Menge. Mit den Vorschüssen auf die
Gesamtmengen würden wir die Produktion auf unserem Mond steigern und innerhalb
von drei bis fünf Jahren unsere Verbindlichkeiten erfüllen."
"Das ist Betrug!" bellt Besit auf. Wir erwarteten
9000 Tonnen und weitere 9000 Tonnen wollten wir von …"
"Eben", unterbricht ihn Raf. Mit 18.000 Tonnen
Alutec könnte man eine brauchbare Kriegsmaschinerie schmieden."
Besit wollte darauf etwas erwidern, doch er verschluckt sich
und verstummt. Raf lächelt Nique zu, die mit den Schultern zuckt. Dann richtete
sie ihre Worte an Besit.
"Wenn Sie so wollen, verehrter Shimbalese, ja! Das ist
Betrug, obwohl wir zu unseren Verbindlichkeiten stehen – nur eben nicht im
angegebenen Zeitraum."
Sie wendet sich dem Alfolianer zu, der verträumt nach oben
in die Kuppel schaut und seinen Trans streichelt. "Ich bin hier, um ein
Geschäft mit Alfol abzuwickeln und nicht mit Shimbali. Darf ich jetzt meine
Frage an Sie richten, verehrter Los?"
Der nickt, ohne seinen Blick von der Kuppel zu wenden, so
als ob er nicht nur die Frage, sondern auch schon die Antwort wüsste.
"Wären Sie bereit, sich mit 2000 Tonnen Alutec
zufrieden zu geben, die volle Anzahlung auf 9000 Tonnen zu leisten und die
restlichen 7000 Tonnen innerhalb von fünf Jahren zu erhalten?"
Los schaut in die Runde. Stille. Dann antwortet er gelassen:
"Ich würde sagen: Jawohl. Doch das ist nicht
terra-mäßig. Also: 35% Anzahlung, 3000 Tonnen und den Zeitraum verkürzen wir
auf 3 ½ Jahre." Dann wendet er sich den beiden sichtlich entnervten
Shimbalesen zu: "Das ist mein Beitrag zur Friedenssicherung."
Raf lacht auf: "Dann wären wir – vorausgesetzt
Alutec-Terra stimmt zu - ebenfalls im
Geschäft, und Dom Levidor würde seine Berater und Ingenieure schicken – es sei
denn..."
Besit zischt mit zusammengekniffenen Augen dem Dom
Levidorianer zu: "Stützpunkte auf Alfol! Das, und nur das ist euer
Ziel!"
"Schon möglich", gibt Raf gelassen zurück.
"Angesichts der jüngsten Shimbalesischen Aggressionen und der zu
erwartenden Aufrüstung mit Hilfe der Alutec-Lieferungen von Terra."
Auf der großen Terrasse vor dem Kapitol stehen Nique, Raf und
Los, umgeben von hunderten von Alfolianer, die still auf- und niederhüpfen – Zeichen
von Freude und Dankbarkeit. Abseits, eher im Verborgenen, wackeln unschlüssig
bewaffnete Shimbalesen auf und ab.
"Werden die Shimbalesen Ihren Planeten verlassen?"
wendet sich Raf an den Alfolianer.
"Sie müssen wohl. Der Respekt vor Dom Levidor ist
ausschlaggebend für ihre überraschende Passivität in dieser Sache."
"Respekt?" Raf lacht. "Leider zu wenig.
Immerhin haben sie mich abgeschossen!" Gleichzeitig beisst sich Raf auf
die Lippen. Los schmunzelt und schaut verlegen zur Seite.
"Raf ist ein Zeitkünstler", raunt er Nique zu.
"So fügt sich in der Zukunft, was in der Vergangenheit problematisch
war."
"Die Shimbalesen dürften auf höchster Ebene verwirrt
sein." erwidert Nique, und Raf ergänzt:
"Sie sind Opfer ihres Mutes, der keine Basis in ihrem
Verstand hat." Und nach einer knappen Verbeugung und einem Seitenblick auf
Nique: "Nun sollen wir uns auf den Weg machen, um unsere Gleiter zu
erreichen."
Auf einen Wink von Los kommen zwei Alfolianer
herbeigelaufen. Sie tragen je einen Trans auf ihren Schultern.
"Ein Andenken …" Los verneigt sich tief, dreht
sich um und schreitet aufrecht durch die Menge.
Nique und Raf, mit der Mentalität der Alfolianer vertraut,
nehmen die Tiere in Empfang, verstauen sie in ihrem Skaphander, setzen die
Helme auf und begeben sich winkend zum äußeren Rand der Terrasse. Plötzlich
ergreift Nique den Arm ihres Begleiters.
"Raf, Du hast im Gespräch mit den Shimbalesen etwas
angedeutet, aber nicht ausgesprochen."
"Oh, Du aufmerksame Astronautin. In der Tat das habe
ich, und ich glaube der Shimbalese ahnte, was ich sagen wollte."
"Und das wäre?"
"Terra liefert große Mengen Alutec an Shimbali. Wenn Du
so willst, tragen die Terraner zu deren Aufrüstung bei." Er lacht. "Du
kannst Dir vorstellen, welche Folgen das für Terra haben könnte."
Darauf erwidert Nique nichts. Schweigend setzen sie ihren
Weg fort.
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Die beiden Sonnen haben die Mittagshöhe verlassen und neigen
sich allmählich dem Horizont zu. Das Meer ist ruhig. Winzige Schaumkronen
blitzen auf, und in der Ferne zeichnet sich ockerfarben die Küstenlinie des
Kontinents ab. Bläulich schimmert die gigantische Zitadelle im seitlichen
Sichtfenster der Helme von Raf und Nique.
"Werden die Shimbalesen ihre Landfahrzeuge gestoppt
haben?"
"Wohl kaum", knistert die Stimme von Raf in Niques
Helm. "Sie verstehen unsere Zeitschleifen nicht." Und nach einem
Augenblick: "Niemand hat die Zeitverschränkung begriffen – nur einer: Los."
"Was werden die Shimbalesen jetzt unternehmen?" Raf
antwortet nicht. Nique fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut. Kennen die so etwas
wie Rache oder Vergeltung? denkt sie. Lassen sie uns unbehelligt?
Der Flug zum Kontinent verläuft ruhig. In knapp drei Stunden
hat das Paar die Küste erreicht. Vor ihnen arbeiten sich die Landfahrzeuge der
Shimbalsen durch die sandige Dünenlandschaft vor zum Gleiter von Raf.
"Wir werden die Kameraden gleich begrüßen können",
lacht Raf in Niques Helm. "Unsere Zeitschleife ist perfekt getimed. Wir
kommen sogar etwas früher an, als wir abgeflogen sind. Mit anderen Worten: Wir
verharren so lange in unserem parallelen Zeitraum, bis der Eintritt in den
Realraum möglich ist."
"Und die Shimbalesen?", fragt Nique zögerlich.
"Die beobachten wir, wie sie meinen Gleiter inspizieren und unverrichteter
Dinge wieder abziehen."
Raf und Nique bereiten die Landung in der Nähe des Gleiters
vor, verringern die Geschwindigkeit und drosseln den Anti-Grav-Antrieb. Kurze
Zeit später setzen sie auf. Die Shimbalesen erscheinen in diesem Moment auf der
Höhe einer Sanddüne und verharren. Das blaue-graue Panzerfahrzeug mit einer
zentralen Glaskuppel und in Fahrtrichtung ausgefahrenen Sensoren dreht bei.
Eine seitliche Luke öffnet sich und drei bewaffnete Gestalten kriechen heraus.
Sie schauen um sich und marschieren los. Am Gleiter angekommen, klopfen sie mit
ihren Waffen auf das Metall, schütteln die Köpfe, tuscheln miteinander, so also
ob sie fürchten müssten, belauscht zu werden. Dann ziehen sie wieder ab.
In diesem Augenblick erscheinen Raf und Nique. Stehen
einfach da, schütteln sich die Hand, nehmen die Helme ab und lachen.
Erschrocken drehen sich die Shimbalesen um und erstarren. Gleichzeitig heult
eine Sirene vom Panzerfahrzeug auf. Die drei Mopsköpfigen stolpern mit großen
runden Augen ein paar Schritte zurück, dann drehen sie sich um und eilen ihrem
Fahrzeug entgegen, das bereits gewendet hat und langsam den Dünenkamm
hinabgleitet, nachdem die drei Soldaten in die offene Luke gesprungen sind.
"Das war Alfol!" Raf schaut Nique in die Augen.
"Ich habe meine Mission erfolgreich erfüllt …"
Nique räuspert sich, "Dank deiner Hilfe, lieber Raf. Und, was noch
bemerkenswerter ist: Mission erfüllt, bevor ich angekommen bin, oder so."
Sie holt tief Luft. Eigentlich sollte ich jetzt erst zur Zitadelle
starten."
Raf verzieht keine Mine. Er blickt nach unten auf seinen
Trans, der ruhig in seiner Armbeuge hockt und mit seinem zierlichen kleinen
Igelrüssel in den Wind schnuppert. Verlegen schaut Nique zur Seite. Auch sie
trägt den Trans, über dessen seidenweiches Fell sie ihre Hand gleiten lässt.
"Was bekommen die Tierchen zu fressen?"
"Hauptsächlich Grünzeug. Möglicherweise aber leben sie
auch von Luft." Raf hat sein Tier in die Hand genommen und inspiziert es.
"Die Knopfaugen sagen: Ich möchte Grünfutter!"
Nique bestätigt das mit einem Nicken. "Im Raumschiff ist ein riesiger
Vorrat …"
Raf wendet seinen Kopf zum Gleiter. Dann schaut er stumm in
den Himmel. "Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Mission erfolgreich
war", kommt es leise von ihm. "Meinen Auftrag habe ich zwar erfüllt
…", er zögert. "Doch was mich anbetrifft …"
"Um Gottes Willen, Raf!" Nique macht einen Schritt
auf ihren Begleiter zu. "Wie steht es mit Deinem Zeitfenster?"
Raf starrt ins Leere. "Vorausgesetzt, ich werden den
Gleiter flugtüchtig bekommen, um in absehbarer Zeit mein Raumschiff zu
erreichen, dann …"
Er bricht ab. "Ein Signal vom Gleiter. War zu
erwarten." Er drückt Nique seinen Trans in den Arm, wendet sich der
Einstiegsluke zu und klettert in das havarierte Gefährt. Nach wenigen
Augenblicken steht er wieder neben seiner Kollegin und schaut sie vielsagend
an.
"Es ist eingetreten, was ich vermutet habe." Er nähert
sich Nique und legt den Arm um ihre Schulter. "Dom Levitor hat die
Alutec-Anlagen auf dem Mond zerstört – restlos dem Mondboden gleich
gemacht."
Lange sagt Nique nichts. Sie streichelt den Trans. Ich
müsste einen Namen für ihn – für ihn? Für sie? – finden. "Bluxte",
sagt sie leise.
Raf lächelt. "Alles Karibik!"
"Du kennst den Planeten?"
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