Montag, 10. Oktober 2016

P1: Poltrona di Proust

Alessandro Mendini, Poltrona di Proust, 1978.
Foto Kluckert. Mit freundlicher Genehmigung der Firma Vitra/Weil am Rhein

Ein bunt gepunkteter Sessel mit dem Titel „Poltrona di Proust“ fügt sich ein in den Reigen der postmodernen Stühle, Sessel und Sofas im Schaudepot der Firma Vitra/Weil am Rhein. Der italienische Designer Alessandro Mendini fertigte ihn ihm Jahre 1978 als Unikat an und später in unterschiedlichen Varianten in einer limitierten Auflage. 
Bereits 1976 plante Mendini, einen Stoff mit literarischen und bildlichen Motiven zu entwerfen. Ihm schwebte der Pointillismus im Stile von Paul Signac und den Schriften 

von Marcel Proust vor. Auf einer  Venedigreise stöberte er einen neobarocken Sessel auf, den er in seinem Atelier mit Stoff überzog und ihn mit Acrylfarbe bunt betupfte.

Proust und die Pointillisten - eine ungewöhnliche Verbindung. Besteht sie darin, dass beide Künstler, der Pointillist Signac und der Autor Proust, zur selben Zeit in Frankreich lebten? Wohl kaum. Außerdem wäre der Titel „Poltrona di Signac“ sinnfälliger gewesen, da dessen koloristische Struktur am Sessel ablesbar ist. Proust dagegen findet man im Sessel nicht wieder - im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Und ein Bezug zum Poeten auf Grund dessen Interesses am Impressionismus scheint ein wenig weit hergeholt zu sein, denn es gab einige französische Vertreter der literarischen Zunft, die ebenfalls die Malerei Signacs oder Seurats schätzten - unter anderen Emile Zola. 

Oder kann man doch Proust und sein Werk am gepunkteten Sessel ablesen? Welche Ähnlichkeiten zu Signac könnte Mendini am Dichter entdeckt haben? Auffallend ist zunächst, dass der Designer zwar eine Art Tupf- oder Punkt-Komposition entworfen hat, aber weit von einer pointillistischen Struktur entfernt gewesen ist. Eine solche gibt sich in Farbtönen zu erkennen, die Gegenständliches vorstellen. Je näher man jedoch an das Gemälde herantritt, lösen sich die Farbtöne auf, so dass nur noch bunte Punkte zu sehen sind. Diese sind allerdings farblich genau definiert und erzeugen in einem bestimmten Mischungsverhältnis Ausschnitte der Wirklichkeit auf der Netzhaut des Auges, sobald sich der Betrachter vom Bild entfernt. Diese Bild-Erfahrung aber lässt die Betupfung des Mendini - Sessels nicht zu. Wäre es indes möglich, dass der Betrachter des Poeten-Sessels zum Leser mutiert und Einblicke nimmt in die Erzählstruktur von Marcel Proust? 

Also nehmen wir Platz im Proust-Sessel (bitte nicht im Schaudepot!) und tauchen ein in Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, genauer in den ersten Band mit dem Titel „In Swanns Welt“. Das Punktmuster auf der linken Armlehne leuchtet in einem glutenden Rot auf und mag uns in die Welt von Swann führen, diesem Flaneur und Genießer. Zusammen mit den Eltern des Ich-Erzählers und weiteren geladenen Gästen diniert Swann im Salon, doch der Erzähler, ein Kind, liegt bereits im Bett und wartet sehnsuchtsvoll auf das Kommen seiner Mutter, die ihm den allabendlichen Gutenachtkuss schuldet.  Aber wird sie tatsächlich die Gesellschaft verlassen können? Ist das nicht unschicklich? Muss das Kind heute Abend auf dieses so lieb gewonnene Ritual verzichten? Um den Gutenachtkuss kreisen quälende Sehnsüchte, aufkeimende Hoffnungen und dumpfe Ängste.
Unvermittelt schlüpft nun der Ich-Erzähler in die Rolle des Autors, der das Szenarium reflektiert, indem er sich erinnert und feststellt, dass im frühen Kindesalter Ängste frei herumschweben und sich mal an dieses oder anderntags an jenes Gefühl heften. Erst, wenn man liebt, ist diese Angst gebunden beispielsweise an die Frau, die man nicht verlieren möchte.
Demnach könnte es sich bei den Punkten um Knotenpunkte oder Gelenkstellen für Erzählstränge handeln. Jeder Punkt steht für Sehnsüchte, Ängste oder Hoffnungen, die sich erzählerisch entfalten und verzweigen, sowie dafür sorgen, dass bestimmte Handlungen, Erlebnisse oder Gefühle in Verbindung treten, um eine ganz besondere Situation zu schildern. Mit anderen Worten, Gefühle werden seziert und nach ihrer Herkunft und ihren Folgen befragt, so dass die seelische Situation eines Menschen in einem speziellen Muster anschaulich wird. 
Auf diese Weise hat Proust ein facettenreiches Bild einer längst vergangenen Zeit entworfen, nämlich das seiner Kindheit. Er spürt seinen Gefühlen nach und bringt sie mit Erlebnissen in Verbindung, aus denen er ein komplexes Bild sprachlich entstehen lässt. 

Mendini mochte dieses Szenarium als ein im losen Verbund umeinander kreisender Punkte begriffen und in seinem Sessel dokumentiert haben. Er hat die Rhetorik, genauer, die Erzählstruktur Prousts im Pointillismus entdeckt und dessen Bildstruktur im Sessel anschaulich gemacht. Er hat mit seinem Titel diesen Sessel dem französischen Dichter gewidmet, und man kann ziemlicher sicher sein, dass er dessen Opus magnum gelesen hat.

Es sind um die vierzig Jahre vergangen, als ich mich über Prousts Romanwerk hergemacht habe. In den Jahren um 1973 bereitete ich ein Seminar über die französische Moderne vor, vorwiegend in Sachen Bildender Kunst, doch auch mit Seitenblicken auf die Literatur und die Musik. Proust war Pflichtlektüre für mich, weniger für die Studierenden, denen ich kaum an die viertausend Seiten zumuten konnte. Also machte ich mich in den Semesterferien an die Arbeit. Ja, zunächst Arbeit, die sich bald unerwartet Seite um Seite in Vergnügen wandelte. Doch die Verbindungen zum Pointillismus sind mir nicht aufgefallen - wahrscheinlich, weil ich nicht danach gesucht habe. Doch seit der Begegnung mit Mendinis Proust-Sessel hat sich nach fast einem halben Jahrhundert die Situation entscheidend geändert. Proust rückte unvermittelt in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen über Design und Literatur. Nun wage ich - rein spekulativ - über eine pointillistische Rhetorik und einen sprachlichen Pointillismus zu sprechen, um damit nicht nur ein Anschauungsbild sondern auch ein Verständnismodell zu vermitteln.

So habe ich meine alte dreizehn-bändige Surkampausgabe wieder hervorgeholt und lese Proust - übrigens, Dank Mendini, viel aufmerksamer als damals vor vierzig Jahren. Von Zeit zu Zeit werde ich hier meine Gedanken posten, angesichts der inspirierenden Atmosphäre der „Proust Poltrona“. 



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