Freitag, 15. April 2016

Mit der Nautilus in eine Parallelwelt




Jules Verne
20 000 Meilen unter den Meeren
Fischer, 1968


Bier ausfahren hat es möglich gemacht. Im Sommer vor fast 50 Jahren, also 1968 (tatsächlich ein halbes Jahrhundert), ging ich als Student einem nützlichen Job nach: Bier ausfahren. Mit dem Bier trinken habe ich mich aber zurückgehalten, denn es galt, meinen Lieblingsautor Jules Verne in einer wunderbaren Ausgabe des Fischer Taschenbuchverlages zu erstehen. Die meisten Romane hatte ich bereits gelesen, doch die Titelbilder betörten meine Augen: Flower Power! We all live in a Yellow Submarine! Die Nautilus mit Kapitän Nemo lag in meinen Händen. Das mit Glanzfolie überzogene Titelbild fühlte sich aufregend an, und ein erstes Aufblättern präsentierte mir in rascher Folge viele Holzstich-Illustrationen der ersten französischen Gesamtausgabe von Pierre-Jules Hetzel (Paris, ab 1863). Ich erwarb einen Schatz und feierte die Stunde mit einer Flasche Bier, vielleicht auch zwei.

47 Jahre später: Der fesselnde Roman Alles Licht das wir nicht sehen von Anthony (hier auf dem Blog) brachte mir Jules Verne, genauer gesagt dessen „20 000 Meilen unter den Meeren“ wieder in Erinnerung. Tatsächlich, dort oben im Regal stehen sie, die schmalen Taschenbücher der Jules-Verne-Ausgabe. Vorsichtig zog ich JV 6 (Jules Verne Band 6) hervor. Da schwimmen sie immer noch über den Buchdeckel, die grün-bunten Fische zusammen mit dem übergroßen Wels, aus dessen Rücken eine knall-bunte Maschine zusammen mit dem würdigen Kapitän Nemo aufsteigen: Die Nautilus. Und dann begann ich mit der Lektüre.

Erstaunlich und wiederum erfreulich, wie viel ich über den Inhalt vergessen hatte. Schon nach den ersten Seiten baute sich Spannung  auf.  Verschlagen auf  ein unheimliches Unterseeboot mit dem Namen Nautilus müssen der Naturforscher Professor Aronnax, dessen Diener Conseil und der kanadische Harpunier Ned Land fürchten, niemals wieder festes Land zu betreten und bis ans Lebensende in dem U-Boot eingeschlossen zu bleiben. Wird das düstere Geheimnis des genialen Kapitäns Nemo gelüftet? Obwohl man sich zu erinnern glaubt, dass die Geschichte einen guten Ausgang nimmt, ist man sich doch nie ganz sicher, ob die Erinnerung trügt. War das Ende nicht doch tragisch? Tragisch und traurig in einer unerwarteten Weise?

Der Roman teilt sich auf in viele abenteuerliche Episoden unter dem Meer. Den fast aussichtslosen Kampf gegen die Riesenkraken erinnerte ich noch, ebenso die unglaublichen Versuche, sich aus der bedrohlichen Umklammerung von Eisblöcken unterhalb des Südpols zu befreien. Die Situation spitzt sich zu. Kapitän Nemo erscheint vor Aronnax, Conseil und dem Harpunier:

„Der Kapitän redete kühl: Meine Herren, es gibt in der augenblicklichen Situation zwei Arten des Todes. 1. Wir werden langsam erdrückt. 2. Wir werden langsam ersticken. Den Hungertod halte ich für ausgeschlossen, denn unsere Lebensmittel reichen wahrscheinlich länger als unser Leben.“

Nach und nach erfuhr ich, was den Kapitän veranlasst haben konnte, seinen Lebenskreis auf das U-Boot zu beschränken. Ihm musste schreckliches widerfahren sein, dass er entschied, sich von der Menschheit zurückzuziehen. Oder war es Zivilisationsmüdigkeit, die ihn in die Einsamkeit trieb?

Kapitän Nemo zu Aronnax: „Am Anfang des Lebens war das Meer, und wer weiß, ob es nicht auch am Ende wieder über dem Leben zusammenschlägt. Hier allein gibt es die große Ruhe. Hier allein haben Tyrannen keine Macht. Auf den Wasserflächen des Ozeans können sie sich noch schlagen und verfolgen, aber schon 10 Meter darunter hört ihre Macht auf. Ach, Monsieur Aronnax, leben Sie mit mir im Schoß des Meeres. Hier allein ist Unabhängigkeit! Hier kenne ich keinen Herren. Hier bin ich frei!“

Oder war es das Meer und nur das Meer, zu dem er sich hingezogen fühlte? Nemo: „O ja. Ich liebe es. Das Meer ist alles. Es bedeckt 7/10 der Erdoberfläche. Der Seewind ist gesund und rein. Es ist eine unermessliche Einöde, in der der Mensch doch niemals allein ist, denn er fühlt, wie das Leben um ihn herum pulst. Das Meer spiegelt ein übernatürliches und wunderbares Dasein wider, es besteht nur aus Bewegung und Liebe, es ist die lebendige Unendlichkeit.“

Nach vielen Seiten konnte ich mich plötzlich erinnern, dass mich damals die langsam sich wandelnde Einstellung des Professors zum Leben fasziniert hat. Wird er sich der Philosophie der Entsagung des Kapitäns soweit nähern können, dass er von der Zivilisation Abschied nimmt? Als kontrastreicher Gegensatz tritt der Naturbursche Ned Land auf. Der Kanadier versucht wiederholt, Gelegenheiten auszumachen, die eine Flucht ermöglichen. Das wiederum erschüttert den Professor in seiner wachsenden Zuneigung zu Kapitän Nemo, denn er verfolgt die Verzweiflung seines Kameraden und muss schließlich beobachten, wie dieser allmählich in düsteren Depressionen versinkt. 

Vor fast einem halben Jahrhundert war ich ein junger Mann, der hoffnungsvoll einem künftigen Goldglanz entgegen studierte – einerseits. Andererseits ließ ich mich aber auch von den 68er Regenbogen-Zeiten begeistern, weniger in politischer Hinsicht, als vielmehr von lockenden Freiheiten und alternativen Lebensformen.

Der bizarre Sonderling Kapitän Nemo wurde mir zusehends sympathischer, bis er die Büchse der Pandora öffnete. Es geschah Ungeheuerliches, und unvermittelt fiel ein düsterer Schatten auf die Nautilus. Aronnax war entsetzt. Welche Konsequenzen wird er ziehen?

Mit der Lektüre von Jules Verne habe ich eine Seereise in die Zukunft und zugleich eine Zeitreise in die Vergangenheit unternommen. Und auf einmal fühlt man sich in der Gegenwart so verdammt wohl. 

PS
Die von mir aus nostalgischen Gründen so hoch gelobte Ausgabe ist heute vielleicht nur noch antiquarisch zu erhalten. Doch aktuelle Jules-Verne-Bände, beispielsweise diejenigen aus dem Diogenes-Verlag, enthalten ebenfalls sämtliche Illustrationen der Pariser Erstausgabe. Außerdem ist der Züricher Verlag bekannt für seine erlesene Titelbild-Kultur.




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen