Die Erfindung des Rechtecks als künstlerische Form
Gerrit Rietveld, Rot-Blaue-Stuhl 1918 - Farbgebung 1923
Foto Kluckert (Vitra, Schaudepot, Weil am Rhein)
Das Rechteck als künstlerische Form entstand nicht als spontane Aktion in den Ateliers von Künstler*innen, sondern wurde in einem langen Geburtsprozess schrittweise hervorgebracht. Diesen gilt es, zu skizzieren, und man wird erstaunt feststellen, dass die einzelnen Schritte nicht unbedingt etwas mit Kunst zu tun haben.
Um 1900 und in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts machten sich Physiker und Psychologen Gedanken um die Konkretion von Bereichen außerhalb unserer sinnlich wahrnehmbaren Welt. Diese sogenannte "Parallel-Realität" war bislang lediglich vorstellbar über Gefühle, den Glauben oder philosophische Theorien. Das war unbefriedigend. An der Frage, "was die Welt im Innersten zusammenhält" war Goethes Faust gescheitert. Einige Jahrzehnte später - der Dichter starb 1832 - hätte er erste Antworten bekommen.
Im Jahr 1909 begann der neuseeländische Experimentalphysiker Ernest Rutherford an seinem Atommodell zu arbeiten, das er 1911 vorstellte. Er drang in Bereiche vor, die damals weder sichtbar noch konkret fassbar waren. Desgleichen der Wiener Psychiater Sigmund Freud, der bereits vor 1900 an seiner Traumdeutung arbeitete - die erste bis achte Auflage erschien zwischen 1900 und 1930. Von einer ähnlichen aber durchaus unterschiedlichen Seite näherte sich der Schweizer C.G. Jung einer "Parallel-Realität" und zwar mit seiner Theorie des kollektiven Unbewussten, das die Psyche des Menschen strukturiert, ohne das es diesem bewusst wird.
Beiden Psychiatern ging es um die Transparenz unserer Realität. Es gibt Bereiche außerhalb unserer wahrnehmbaren Wirklichkeit, die unsere Persönlichkeit prägen, wozu die Träume und das Unbewusste gehören, und das Unbewusste war für Freud das Material, aus dem sich unsere Träume gestalten.
In diesem Zusammenhang muss auch der französische Kunsttheoretiker und Dichter André Breton genannt werden, der 1924 in seinem ersten "Surrealismus-Manifest" eine objektive gegebene Realität in Frage stellte. Das, was wir geniessen oder ablehnen ist ein individuelles Konstrukt des Unterbewusstseins. Die Beurteilung meiner Realität setzt sich facettenreich zusammen und zwar aus meinen Ängsten, Hoffnungen, Sehnsüchten, Freuden usw - also aus meiner augenblicklichen Gefühlslage, so dass ich den Vollmond, den ich nächtens hinter einer Bergkette aufsteigen sehe als Bedrohung empfinden kann, wohingegen andere Personen dasselbe Ereignis mit dem Prädikat "Idylle" auszeichnen.
Genau das gehörte zum Themenkomplex der Surrealisten wie Salvatore Dali, Max Ernst oder Giorgio die Chirico. Sie inszenierten Traumwelten mit entfremdeten oder deformierten Bildelemente, schufen aberwitzige Kompositionen und gestalteten die Wirklichkeit um, machten sie fremd, aber eben nicht transparent. Sie stellten Abbilder ihrer Phantasie vor.
Die Dadaisten wie Man Ray, Hans Arp oder Marcel Duchamp - zu denen sich übrigens auch die Surrealisten zählten - gingen einen gewaltigen Schritt weiter, möglicherweise weil sie sich vom herkömmlichen Kunstbegriff verabschiedet hatten. "Dada" wurde 1916 im Züricher Club Voltaire gegründet. Künstler, Literaten, Philosophen oder Schauspieler schlugen ein französisches Wörterbuch auf und blätterten in den Seiten, bis einer der Künstler*innen einen Federkiel in die blätternden Seiten fügte. Die Spitze zeigte auf das Wort "Dada", was mit "Steckenpferd" übersetzt werden kann. Der Name Der Bewegung war geboren und zwar mit Hilfe des Zufalls.
Was ist Zufall? Etwas, das einer Person zufällt. Jedoch kennt man weder das Warum noch das Wie. Zufall ist ein Ereignis, dessen Kausalkette unbekannt und wohl auch unergründlich ist. Ist der Zufall ein Phänomen einer "Parallel -Realität"? Möglicherweise wollten das die Dadaisten ergründen. Sie experimentierten mit diesem Phänomen und ließen es zum künstlerischen Ereignis avancieren. Hans Arp hat kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs eine Art Bildserie geschaffen, die er "Collagen nach den Gesetzen des Zufalls geordnet" nannte. Er schnitt und riss graues und schwarzes Papier in kleine Blätter oder Fetzen, ließ diese auf einen großen Karton fallen und fixierte sie. Die Komposition gestaltete demnach nicht er selbst, sondern eine "Macht jenseits der Realität",Arp hat lediglich die Voraussetzungen geschaffen. Marcel Duchamp hat diesen Vorgang mit kolorierten und einen Meter langen Fäden wiederholt. Ist das Kunst? Nein, das ist Antikunst, oder gar keine Kunst - eben "Zufalls-Kunst".
Ich bin mir nicht sicher, ob die Experimente, Theorien und Aktionen von Rutherford, Freud, Bréton oder Duchamp tauglich für die Klärung des Begriffs Abstraktion sind. Sie haben lediglich beweisen wollen, dass es Wege geben kann, das Nicht-Sichtbare sichtbar zu machen. Paul Klee hat diesen Weg beschritten und in seiner "Kunst-Lehre" den Begriff des Abstrakten erörtert. Zwischen 1921-1923, spricht er in seinen Vorlesungen über das, was wir von der Natur sehen und das, was sie verborgen hält - für Klee das "Essentielle". Man sollte Schichten unserer Realität abtragen, um zu schauen, was darunter verborgen liegt. Vielleicht, so Klee, erkennen wir hier die Ur- oder Grundformen, wenn nicht sogar die Baupläne der Natur. Dieses Abtragen meint Wegnehmen, also abstrahieren (lat. abstrahere), das sehen lässt, was darunter liegt (lat. subiecere). Dieser Weg führt uns vom Abstraktum zum Subjektum, zum Wesentlichen und Eigentlichen - vor allem aber zum Individuellen.
Seine Vorlesungen hielt Klee am 1919 gegründeten "Weimarer Bauhaus", an dem er von 1920 - 1926 lehrte. Das "Wesentliche und Eigentliche" - ist es noch aus der Vergangenheit zu schöpfen, oder müssen wir uns von dieser strikt abwenden? Die Sehnsucht nach einer "Neuen Zeit", nach einer lebenswerten Zukunft, gerade nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg, war übermächtig.
Der Bauhaus-Gründer Walter Gropius und sein Team gestalteten ein Konzept, in dem die Künste, die Architektur, das Handwerk und das Design zu einer kreativen Einheit zusammenwachsen sollten. Vorgesehen war nicht nur eine stilistische Neuorientierung, sondern auch eine kritische Durchleuchtung der künstlerischen Tradition.
Die zwei Jahre zuvor im Jahr 1917 gegründete holländische Kunstschule "De Stijl", setzte sich entschieden von der Tradition ab. Gründungsmitglieder waren unter anderem Theo van Doesburg und Piet Mondrian. Dessen Landsmann, der Designer und Architekt Gerrit Rietveld, schloss sich 1922 der Gruppe an.
Mondrian beschleunigte den Abstraktions-Prozess mit ungewöhnlichen Kompositionen. Das scheibchenweise Abtragen vom sinnlich Fassbaren wird anschaulich in Mondrians "Apfelbaum-Serie", die schon kurz nach der Jahrhundertwende, also noch im Nachklang des Jugendstil begann. Jahre zuvor hatte er sogar noch einen Apfelbaum in impressionistischer Manier gemalt, aber mit dem im fauvistischen Stil gemalten "Roten Baum" von 1908 begann das Projekt "Vom Baum zum Raster". Später löste er das Astgeflecht auf und gestaltete reine Aststrukturen (Grauer Baum 1911), die eigenständige konstruktivistische Kompositionen vorstellten. Diese "ordnete" er als Rechtecke unterschiedlicher Größe an, um ein Raster zu gestalten. Das Ergebnis: Teilweise kolorierte grau oder schwarz gerahmte Rechtecke (Komposition von 1921).
In den 60er und 70er Jahren war übrigens der "Design-Markt" angefüllt mit Mondrian-Mustern. Ob Möbel, Schuhe, T-Shirts, Handtücher oder dergleichen mehr - das Mondrian-Muster war gefragt, weil es poppig daher kam. Sogar der Top-Modedesigner Yve Saint Laurent (YSL) hat die Kleidermode mit "Mondrian" veredelt.
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Anmerkungen:
Mondrian Roter Baum 1908
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Piet_Mondrian,_1908-10,_Evening;_Red_Tree_(Avond;_De_rode_boom),_oil_on_canvas,_70_x_99_cm,_Gemeentemuseum_Den_Haag.jpg
Mondrian, Grauer Baum 1911
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gray_Tree_1911.jpg
Mondrian, Komposition in Rot, Gelb, Blau und Schwarz 1921
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Piet_Mondriaan,_1921_-_Composition_en_rouge,_jaune,_bleu_et_noir.jpg
Mondrian Kleid 1965 YSL
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mondrian-2017-04-22-2.jpg
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Mit seinen Arbeiten prägte Mondrian die Grundsätze der "De Stijl-Gruppe": Gefordert war eine Abkehr von der traditionellen Kunst zu einer einfachen artistischen Gestaltungsart: Farbige Rechtecke mit den Grundfarben Blau, Rot und Gelb, sowie den Nicht-Farben Weiß und Schwarz. Keine Frage, dass mit diesem Konzept auch das Tor zur Architektur und besonders zum Design aufgestoßen wurde.
Der Holländer Gerrit Rietveld, der sich erst 1918 der Gruppe anschloss, stellte seinen im Jahr zuvor fertiggestellten Stuhl vor, der allerdings erst 1923 seine Farbe nach den Grundsätzen der Akademie erhielt. Unter dem Namen "Blue-Red" avancierte er zu einer Ikone des Möbeldesigns.
Die "Raster-Ästhetik" seines Kollegen Mondrian war nicht nur Zitat sondern auch Kompositions-Modell. Natürlich war gerade bei diesem Projekt der Designleitsatz "Form follows Function" (Leo Sullivan, 1896) für Rietveld verbindlich. Der Stuhl selbst scheint jedoch nach einer ersten Betrachtung diesen Anspruch nicht zu erfüllen, nämlich, bequem und gesund darin zu sitzen. Rietveld ließ sich von Physiotherapeuten und Ärzten beraten, welche Maße er für die Rückenlehne und den Sitz sowie den Sitzwinkel und die Höhe der Armlehnen wählen müsste. Das Ergebnis: Der Stuhl ist bequem. Um sich davon zu überzeugen, muss man darin Platz genommen haben.
Rietvelds Stuhl - eine konstruktivistische Skulptur im "Mondrian-Gewand". Als Architekt blieb er offensichtlich diesem Grundsatz treu. Mit anderen Worten, es ging um ein neues Raumbewußtsein, für das die "Raster-Ästhetik" die Grundlage geschaffen hatte. Im Jahr 1924 arbeitete er mit der Bauherrin und Innenarchitektin Truus Schröder-Schräder verschiedene Entwürfe für deren Wohnhaus in Utrecht aus. Ursprünglich war ein Betonbau geplant, was aus Kostengründen aufgegeben wurde. Die Ausführung bestand aus verputztem Mauerwerk, Stahlbeton kam lediglich für das Fundament und die Balkone zum Einsatz.
Auffallend sind die strenge Gliederung der Fassade und die konsequente Farbgebung nach dem Farbkonzept des De Stijl: Rot, Gelb, Schwarz, Grau und Weiß. Zwei Inspirationsquellen waren offensichtlich maßgebend, die Architektur Frank Lloyd Wrights und das Bauhaus. Der Berliner Verleger Ernst Wasmuth hatte 1910 eine Mappe mit Entwürfen des amerikanischen Architekten herausgegeben, die sicherlich auch im "Bauhaus" und in der De Stijl-Gruppe die Runde machten. Die klare geometrische Gliederung mit weit vorkragenden Dächern und Terrassen mögen eine Inspirationsquelle für Rietveld gewesen sein.
Der Bezug zum Bauhaus wurde im Jahr 1921 vom Gründer des De Stijl, Theo van Doesburg hergestellt. Sein Credo "Architektur setzt sich zusammen aus einfachen kubischen Formen", fiel bei Gropius auf fruchtbaren Boden, da es ihm darum ging, nach dem 1. Weltkrieg möglichst kostengünstig Wohnraum für die Bevölkerung bereitzustellen. Verschiedene Kuben-Typen sollten hergestellt und variantenreich miteinander kombiniert werden. 1922 entstanden über ein Baukastensystem die sogenannten "Typenseriengebäude". Gropius formulierte den Sachverhalt folgendermaßen: "Baukasten im Großen, aus dem sich nach vorbereiteten Montageplänen je nach Kopfzahl und Bedürfnis der Bewohner verschiedene 'Wohnmaschinen’ zusammenfügen lassen. Marcel Breuer, Farkas Molnár und Adolf Meyer entwarfen Variationen zum Versuchshaus für den Baubereich "Am Horn" in Weimar.
Die Entwürfe dürften Rietveld interessiert haben, besonders die des Versuchshauses, das viele Ähnlichkeiten mit dem Schröde-Haus aufweist. Wenn auch Theo van Doesburg ohne Lehrauftrag von Gropius lediglich geduldet wurde, hat er doch einen beträchtlichen Eindruck beim Lehrpersonal und den Schülern hinterlassen.
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Rietveld, Rot-Blaue-Stuhl 1918 - Farbgebung 1923
Foto Kluckert (Vitra, Schaudepot, Weil am Rhein)
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:RietveldSchroederhuis.jpg
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Einer von ihnen war Marcel Breuer, der von Rietvelds "Blu Red" sehr angetan war. Von 1921-1924 studierte Breuer in der Tischlereiwerkstatt von Gropius, aus der er als "Jungmeister" hervorging und bis 1928 die Möbelwerkstatt leitete. 1925 entstand "B3", der erste Entwurf für einen Stahlrohrstuhl, mit dem Breuers Begeisterung für Rietveld anschaulich wird. Von 1920 bis in die 60er Jahre produzierte Thonet das Möbelstück und ab 1964 Dino Gavina, der ihm den Namen Wassily Chair verlieh, da offensichtlich der Bauhaus-Meister Wassily Kandinsky vom "Clubsessel B3" begeistert war. Ab 1968 produziert der amerikanische Möbelhersteller "Knoll International" nach dem Aufkauf von Gavina den Stuhl.
Marcel Breuer, "Wassiliy"/Clubsessel B3
Foto Kluckert (Vitra-Schaudepot, Weil am Rhein)
Dieser Essay sollte einen nicht dazu verleiten, eine Kausalkette zwischen Rutherford und Mondrian zu knüpfen, so als ob die "Raster-Artistik" des Künstlers ohne das Atommodell des Physikers nicht denkbar gewesen wäre. Es geht um etwas anderes, um die Suche nach Bereichen unserer Wirklichkeit, die konkret nicht fassbar, wohl aber denkbar und dann eben doch anschaulich vorgestellt werden können. Diese Fragen haben um 1900 Vertreter der Natur- und Geisteswissenschaften, sowie Künstler bewegt. Sie sind fündig geworden, beispielsweise mit dem Atommodell, dem Kollektiven Unbewussten, der Konkretisierung des Zufalls oder der Parallel-Realität "Abstraktion": Bei Monet, Seurat oder Picasso sind die Bildelemente autonom geworden und haben damit eine eigene Wirklichkeit, eine Farb- oder Kunst-Wirklichkeit entstehen lassen.
Die Abstraktion endete bei Mondrian und Rietveld mit der Erfindung des Rechtecks als künstlerische Form.